SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)

Die Familie aus dem Emsland

Herzinfarkte haben viel mit Cholesterin zu tun, das weiß jeder. Doch Genomforscher kennen heute viele Mechanismen, die das Infarktrisiko erhöhen. Damit rücken neue Behandlungs- und Präventionskonzepte in den Blick.
Im Jahr 1998 wurde Professor Heribert Schunkert, heu­te Direktor der Kardiologie am Deutschen Herzzentrum München, auf eine große Familie aus dem Emsland aufmerksam, in der auffallend viele Herzinfarkte auf­traten. Den Anfang machte eine 50­-jährige Patientin. Es stellte sich heraus, dass es sieben Geschwister und etwa dreißig Cousins und Cousinen gab – viele von ih­nen hatten ebenfalls Herzinfarkte erlitten. „Wir waren uns sehr sicher, dass es eine genetische Ursache geben musste“, erinnert sich Professorin Jeanette Erdmann, die damals zu Schunkerts Arbeitsgruppe stieß. Heute leitet sie als DZHK-­Professorin das Institut für Kardio­genetik an der Universität zu Lübeck.

Der lange Weg vom Gen zur Erkenntnis

Um die Jahrtausendwende war Genomforschung noch mühsam. Die Wissenschaftler suchten vergeblich nach einer Genvariante, die die extreme Häufung von Infarkten in dieser Familie erklären konnte. Doch die Methoden entwickelten sich weiter. Die Sequenzierung ganzer Genome wurde kostengünstiger. Gleichzeitig entstanden immer mehr Kohorten von Menschen, die zu Forschungszwecken ihre medizinischen und genetischen Daten zur Verfügung stellten.
DER HERZINFARKT WAR 
NAHEZU UNAUSWEICHLICH.
Solche Patientenkohorten ermöglichen seit etwa 15 Jahren die genetische Forschung in großem Maßstab. Ein wichtiges Instrument sind genomweite Assoziationsstudien, kurz: GWAS. Dabei werden Millionen Genvarianten bei Herzinfarktpatienten mit denen bei gesunden Menschen verglichen. Bis heute wurden an etwa 250 Orten im Genom Risikogene für Herzinfarkte identifiziert. „Am Ende werden es circa 400 sein“, schätzt Schunkert. Einige wenige sind sehr selten und erhöhen das Risiko sehr stark. Dazu gehören Mutationen im Rezeptor für das „böse“ LDL­-Cholesterin. „Die große Mehrheit der Risikoallele, also der ungünstigen Genvarianten, erhöht das Infarktrisiko aber nur leicht. Hier hängt das Gesamtrisiko davon ab, wie viele Risi­koallele eine Person mitbringt.“
DIE WISSENSCHAFTLER SUCHTEN VERGEBLICH NACH EINER GENVARIANTE, DIE DIE EXTREME HÄUFUNG IN DIESER FAMILIE ERKLÄREN KONNTE.
Leider verrät nicht jedes Gen sofort, warum es pro­blematisch ist. Hier wurden in den letzten Jahren aber große Fortschritte erzielt: Risikogene für Herzinfarkt finden sich nicht nur im Fettstoffwechsel, sondern auch bei der Blutdruckregulation, der Gerinnung, der Blutgefäßneubildung, der Regeneration der glatten Muskelzellen und den immunologischen Signalwegen.

Die Lösung des Emsland-Rätsels

Die Familie aus dem Emsland hat das Team um Heri­bert Schunkert und Jeanette Erdmann nicht aus den Augen verloren: „Wir konnten irgendwann die Gense­quenzierung bei drei Patienten finanzieren“, so Erd­mann. Mit Erfolg: Eine sehr seltene Variante in einem Gen namens GUCY1A3 fand sich bei fast allen betrof­fenen Familienmitgliedern. „Parallel tauchte ein häufi­ges Allel von GUCY1A3 in einer GWAS­-Studie auf. Das war für uns die Bestätigung, dass wir richtig lagen.“
VIELSCHICHTIG
Forscher kennen immer mehr Mechanismen für die Entstehung der Atherosklerose am Herzen, die (auch) genetisch bedingt sind:

– Fettstoffwechselstörungen
– Erhöhter Blutdruck
– Störungen bei der Blutgefäßneubildung
– Störungen im NO­-Signalweg
– Gestörte Umbauprozesse der Blutgefäßwand
– Entzündungsprozesse
– Defekte beim Ablesen der Gene
Dass die Mutation in GUCY1A3 nicht früher aufgefal­len war, lag an einer Besonderheit: Sie allein erhöhte das Herzinfarktrisiko nur moderat. Das Unglück der Familie aus dem Emsland war, dass noch eine Mutati­on hinzukam. Die lag in einem Gen, das mit GUCY1A3 interagiert. Lag bei einer Person die extrem seltene Kombination beider Mutationen vor, war der Herz­infarkt fast unausweichlich.

Doch warum GUCY1A3? „Um das zu klären, haben wir mit Blutplättchen gearbeitet“, erläutert PD Dr. Thorsten Kessler vom Deutschen Herzzentrum München.
GUCY1A3 kodiert für eine Untereinheit des Enzyms lösliche Guanylatcyclase (sGC), das unter anderem in Blutplättchen vorkommt. Die sGC ist der Rezeptor für Stickstoffmonoxid, kurz NO. Dockt NO an, bildet die sGC den Botenstoff cGMP. Er verhindert, dass die Blut­plättchen „übereifrig“ werden und zu viele Gerinnsel bilden. Genau diese NO­-abhängige cGMP-­Bildung funktioniert bei Menschen mit GUCY1A3 Risikoallel nur schlecht. Und bei der seltenen Mutationskombi­nation der Familie aus dem Emsland funktioniert sie gar nicht mehr. Die Folge: Das Risiko für eine Athero­sklerose und damit für Herzinfarkte steigt.
DER NO-SIGNALWEG ALS EIN NEUER MECHANISMUS BEIM HERZINFARKT
NO ist bekannt als blutdrucksenkend. Doch über den nachgelagerten Botenstoff cGMP beeinflusst es auch Blutplättchen und damit Blutgerinnung und Gefäßverkalkung (Atherosklerose). Genetische Veränderungen können den NO­-Signalweg an vielen Stellen beeinträchtigen. Das Ergebnis ist immer dasselbe: NO wirkt nicht mehr so, wie es wirken sollte. Das Herzinfarktrisiko steigt.

Stickstoffmonoxid-Signalweg bietet therapeutische Ansatzpunkte

Mittlerweile haben Wissenschaftler weitere Risiko­gene im Zusammenhang mit dem NO-­Signalweg beschrieben. Die NOS3 ist für die Herstellung von NO verantwortlich. PDE3A und PDE5A kodieren für Phosphodiesterasen. Das sind Enzyme, die cGMP abbauen. Auch die Wirkung von cGMP kann genetisch beeinträchtigt sein, das entsprechende Gen heißt IRAG. Der Effekt ist immer derselbe: NO wirkt in den Blutplätt­chen und der Blutgefäßwand nicht mehr so, wie es wirken sollte – ein neuer Signalweg bei der Entste­hung der Atherosklerose ist damit identifiziert.
WEIL DIE GEHÄUFTEN HERZINFARKTE AUF EINE EXTREM SELTENE KOMBINATION ZWEIER MUTATIONEN ZURÜCKGINGEN, WAR EINE UNMITTELBARE WEITERGABE AN KINDER UNWAHRSCHEINLICH.
Dass der NO­-Signalweg bei der Entstehung von Herz­infarkten eine so wichtige Rolle spielt, sei überra­schend gewesen, sagt Kessler. NO ist Ärzten als ein blutdrucksenkendes Molekül bekannt. 1998 gab es für diese Entdeckung sogar einen Nobelpreis. In Form von Nitraten wird NO als Medikament bei durchblutungsbedingten Herzbeschwerden eingesetzt. „Wir wissen aber auch, dass Nitrate zwar die Schmerzen nehmen, jedoch nicht das Herzinfarktrisiko senken, weil der Nutzen der Nitrate mit der Bildung von frei­en Sauerstoffradikalen ‚erkauft‘ wird“, so Kessler.

Aspirin senkt das Risiko –
aber nur, wenn das Risikoallel vorliegt

Nitrate sind nicht die einzige Möglichkeit, auf den NO­-Signalweg einzuwirken. Zwei andere Optionen wären, die sGC zu aktivieren oder die Phosphodies­terase zu hemmen. Für beides gibt es Medikamente, die bei der Prävention von Herzinfarkten aber noch nicht untersucht wurden. Denkbar ist auch, die über­aktiven Blutplättchen mit Aspirin zu hemmen. Aller­dings haben große Studien wie die Physicians‘ Health Study und die Women’s Health Study insgesamt kei­nen schützenden Effekt von Aspirin gefunden, wenn es von gesunden Menschen eingenommen wird.

Schunkert und Kessler haben sich die beiden Studi­en genauer angesehen und analysiert, ob Aspirin bei jenen rund 80 Prozent der Patienten mit GUCY1A3­-Genvariante effektiver war. Das war der Fall: Wenn das Risikoallel vorlag, senkte Aspirin das Risiko von Herzinfarkten und Schlaganfällen um ein Fünftel. „Das sollte Anlass für eine eigene Studie zu dieser Frage­stellung sein. Es wäre ein Schritt in Richtung einer stärker individualisierten Herz­-Kreislauf­-Prävention.“

Genetischer Risiko-Score für gezieltere Prävention

Könnte vielleicht auch ein genetischer Risiko-Score helfen, die Herz­-Kreislauf­-Prävention stärker auf das Individuum zuzuschneiden? Schunkert ist vorsichtig: „Die meisten Menschen haben zwischen 140 und 180 Risikoallele für den Herzinfarkt. Das heißt, wir Men­schen sind ähnlich gestrickt und tragen den genetischen Bauplan für den Herzinfarkt in uns. Allerdings steigt mit der Zahl der Allele das Risiko exponentiell an, sodass die Menschen am oberen Ende viermal so häufig getroffen werden wie die am unteren Ende der Verteilungskurve.“ Dass Menschen, die wissen, dass sie genetisch stark gefährdet sind, ihr Verhalten ändern, etwa nicht rauchen oder sich mehr bewegen, sei denkbar, aber bisher nicht belegt, so Erdmann: „Wir haben eine kleine Studie bei Herzinfarktpatienten gemacht, die wir genetisch beraten haben, um zu sehen, ob das positive Effekte hat.“
Bei der Familie aus dem Emsland wurden die Blut­plättchen medikamentös gehemmt. Und weil die gehäuften Herzinfarkte auf eine extrem seltene Kombination zweier Mutationen zurückgingen, war eine unmittelbare Weitergabe an Kinder unwahrscheinlich: „Für die Beratungen war das extrem hilfreich, so konnten wir vielen Familienmitgliedern ihre Angst nehmen“, sagt die Humangenetikerin Erdmann.
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