SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)

Der Schwarm

Das DZNE knüpft ein weltweites Netzwerk, in dem KI in Abertausenden Patientendaten nach Mustern sucht. Bislang sind solche Untersuchungen oft am Datenschutz gescheitert. Das neue Hightech-Verfahren aber sammelt keine Daten, sondern setzt auf einen Schwarm aus gleichberechtigten Partnern – und verspricht neue Erkenntnisse zu den Mechanismen von COVID-19 und neurodegenerativen Erkrankungen.
Manchmal muss sich Joachim Schultze gefühlt haben wie ein Schatzsucher, der auf einer Goldmine sitzt, aber keine passende Schaufel hat. Schultze ist Medizinprofessor, in seinem Labor auf dem Bonner Venusberg steht modernste Technik, und für die Datenanalyse nutzt er spezielle Algorithmen. Damit lassen sich in gewaltigen Bergen von Bluttests und Gendaten auch noch die kleinsten Hinweise auf versteckte Krankheiten aufspüren – aber häufig kommt Schultze nicht an die Daten heran, die er dafür braucht. „Wir Ärzte haben den hippokratischen Eid geschworen", sagt er, „und darin ist die Verschwiegenheit ein zentrales Prinzip." Die Daten von Patientinnen und Patienten darf er also nicht einfach in den Krankenhäusern einsammeln, um sie für seine Forschung zu nutzen.
DIE ALGORITHMEN FINDEN IN GEWALTIGEN BERGEN VON BLUTTESTS UND GENDATEN AUCH NOCH DIE KLEINSTEN HINWEISE AUF VERSTECKTE KRANKHEITEN.
Dass Joachim Schultze schließlich doch noch die "Schaufel" gefunden hat, mit der er in der Goldmine arbeiten kann, liegt an einem zufälligen Plausch vor einigen Jahren mit einem Computerspezialisten. Dieser berichtete nebenbei von einem neuartigen System, das mit Daten überall auf der Welt arbeiten kann, ohne dass diese Daten verschickt werden müssen. Stattdessen bleiben sie an Ort und Stelle und werden mithilfe eines ausgeklügelten Verfahrens dort genutzt. Schultze horchte auf, war wie elektrisiert – und mit diesem Gespräch begann eine Entwicklung, die der Medizinforschung spektakuläre neue Möglichkeiten eröffnet. In ersten Studien haben Joachim Schultze und seine Kolleginnen und Kollegen inzwischen gezeigt, dass das Verfahren auch in der Praxis funktioniert.

Muster-Erkennung auf molekularer Ebene

Am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn ist Joachim Schultze Direktor für Systemmedizin. In diesem speziellen Feld der Medizinforschung geht es um Daten: Wenn eine künstliche Intelligenz beispielsweise die Röntgenbilder von Tausenden Lungenkranken durchforstet, wird sie dabei möglicherweise gemeinsame Muster feststellen – kleine Ähnlichkeiten, die dem menschlichen Auge entgehen würden. Ähnlich funktioniert es bei Bluttests, mit denen sich über eine Vergleichsgruppe Tausender Menschen hinweg sogar noch kleinste Gemeinsamkeiten aufspüren lassen. Das sind dann exakt die Stellen, an denen die weitere Forschung ansetzen kann, um etwa hochpräzise Medikamente zu entwickeln.

„Das ist das gleiche Prinzip, das jeder Arzt anwendet", sagt Joachim Schultze. „Er betrachtet eine Patientin oder einen Patienten, untersucht Beschwerden und erkennt anhand von bestimmten Mustern, woran sie oder er erkrankt ist." In der Systemmedizin wird dieses Prinzip der Mustererkennung dank Hightechmethoden auf die mikroskopisch feine Ebene übertragen. Das einzige Problem: Jede Arztpraxis und jede Klinik hat die Daten von ein paar Dutzend Patientinnen und Patienten, darf sie aber wegen des Datenschutzes und des hippokratischen Eids nicht herausgeben. Und richtig wirkungsvoll wird die Forschung auch erst, wenn sie nicht mit ein paar Dutzend Datensätzen arbeitet, sondern mit Abertausenden.
RICHTIG WIRKUNGSVOLL WIRD DIE FORSCHUNG ERST, WENN SIE STATT MIT EIN PAAR DUTZEND DATEN MIT
ABERTAUSENDEN ARBEITET.

Ein Vogelschwarm als Vorbild

„Genau darum ging es in meinem Gespräch mit dem Computerspezialisten der Firma Hewlett Packard Enterprise damals," erzählt Joachim Schultze. Damals entdeckte er jenes Prinzip, das in Fachkreisen als Swarm Learning bezeichnet wird: „Schwarm-Lernen". Der Gedanke dahinter: Während bislang Daten gesammelt werden mussten, um sie an einem Ort von einem Algorithmus nach Besonderheiten und Mustern durchsuchen zu lassen, besucht jetzt der Algorithmus die dezentral gespeicherten Daten. Er durchsucht sie nach auffälligen Mustern und zieht jene Informationen heraus, die für die jeweilige Fragestellung nötig sind – und nur diese werden ausgetauscht. Geteilt werden also nicht die Daten, sondern nur die Erkenntnisse, die aus ihnen abgeleitet sind. Die Patientendaten selbst verlassen nie ihren sicheren Speicherort. „Man kann sich das vorstellen wie einen Vogelschwarm: Mit jeder Klinik schließt sich ein Vogel dem großen Schwarm an", sagt Joachim Schultze. Je mehr Vögel dazustoßen, desto mächtiger wird der Schwarm.
EIN ENTSCHEIDENDER VORTEIL DIESER TECHNIK IST, DASS ALLE MITGLIEDER DES SCHWARMS GLEICHBERECHTIGT SIND.
Dieses Swarm Learning ist die Schaufel für die Goldmine, nach der Joachim Schultze so lange gesucht hatte. In Pilotstudien konnten er und sein Team bereits nachweisen, dass die Methode funktioniert. Nun geht es um den Praxistest. „Dafür haben wir uns COVID-Durchbruchinfektionen vorgenommen: Wir wollen verstehen, warum manche Personen trotz Impfung an Corona erkranken", erklärt Joachim Schultze. Acht Universitätskliniken aus ganz Deutschland beteiligen sich an dem Schwarm. Sie nehmen bei ihren Patientinnen und Patienten Proben des Blutes, aus dem Nasen-Rachen-Raum sowie der Lunge und untersuchen sie so genau, dass selbst einzelne Moleküle sichtbar gemacht werden können. All diese Daten wertet der Algorithmus schließlich vor Ort aus und schickt die Ergebnisse in den großen Schwarm. Dieses Netzwerk soll zum Rückgrat für ein internationales Reaktionssystem auf COVID-19 werden.

Partner aus aller Welt

Ein entscheidender Vorteil dieser Technik ist, dass alle Mitglieder des Schwarms gleichberechtigt sind. „Es gibt keine zentrale Macht über das Geschehen und die Ergebnisse, also gewissermaßen keine Spinne, die das Datennetz kontrolliert. Das ist ein Pluspunkt gegenüber anderen Verfahren, die ebenfalls dezentrale Daten analysieren", sagt Joachim Schultze. Forschende von allen beteiligten Kliniken haben jederzeit Zugriff auf die gesammelten Ergebnisse des Schwarms; sie sind nicht bloße Datenlieferanten, sondern können selbst mit den Ergebnissen arbeiten. Und: Das Swarm Learning funktioniert auch über Landesgrenzen hinweg. Institutionen aus anderen Kontinenten können sich beteiligen. Zuvor scheiterten solche Kooperationen oft an Landesgesetzen, die den Austausch von biomedizinischen Daten streng regulieren. Wenn am Ende die Ergebnisse eines solchen gemeinsamen Forschungsprojekts zu einem neuen Medikament oder einem diagnostischen Test führen, werden alle Beteiligten nach einem vorher festgelegten Schlüssel an den Tantiemen beteiligt. „Alle Partner profitieren vom Swarm Learning und halten zugleich die strengsten Datenschutzvorschriften ein, das ist der große Vorteil gegenüber anderen Verfahren", so Joachim Schultze.
Der Bonner Experte arbeitet nun mit seinem Team daran, einen weltumspannenden Schwarm aufzubauen. Partner gibt es bereits im europäischen Ausland, in den USA, Japan und Australien. Forschungseinrichtungen in Afrika und Südamerika sollen ebenfalls dazustoßen. In einem solchen Netzwerk könnten dann auch Krankheiten wie Demenz oder Parkinson untersucht werden. Diese Vision treibt Joachim Schultze bereits voran. Er ist überzeugt: Wenn der Schwarm aus vielen Hundert Mitgliedern besteht, die Erkenntnisse aus Tausenden von Krankheitsverläufen einbringen, könnte es gelingen, auch solche Rätsel zu entschlüsseln, an denen die Forschung mit ihren bisherigen Methoden bislang scheiterte.
ALLE PARTNER PROFITIEREN VOM SWARM LEARNING UND HALTEN ZUGLEICH DIE STRENGSTEN
DATENSCHUTZVORSCHRIFTEN EIN.
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