Industrialisierung und Urbanisierung bringen nicht nur Vorteile. Dass Industrie, Verkehr, Kraftwerke oder Gebäude ihren Energiebedarf durch die Verbrennung von Öl, Gas oder Kohle decken, sorgt für reichlich „dicke Luft“. Und die hat massive Auswirkungen auf die Gesundheit: Laut einer Studie der medizinischen Fachzeitschrift Lancet starben im Jahr 2019 knapp neun Millionen Menschen vorzeitig aufgrund von schlechter Luftqualität beziehungsweise Schadstoffen wie Stickstoffdioxid, Schwefeloxiden, Kohlenmonoxid, Ozon oder Feinstaub. Professor Thomas Münzel, Principle Investigator beim Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) und aktuell Seniorprofessor am Zentrum für Kardiologie der Universitätsmedizin Mainz, kann das nur unterstreichen: „Unsere Studien zeigen, dass die Luftverschmutzung zu den größten Gesundheitsgefahren gehört. Vor allem Feinstaub verursacht Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sowie der Atemwege oder verschlimmert diese. Luftverschmutzung übertrifft Malaria als Ursache vorzeitiger Todesfälle um den Faktor 19 und Aids um den Faktor 9.“
JE KLEINER, DESTO GEFÄHRLICHER: ULTRAFEINSTAUB KANN DAS GEHIRN ERREICHEN
Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen vom Max-Planck-Institut für Chemie hat Münzels Team in einer Studie berechnet, um wie viele Jahre die Lebenserwartung durch diese Umwelteinflüsse im Durchschnitt verkürzt wird. Die Daten bestätigen die Resultate der Lancet-Studie: Demnach verursacht Luftverschmutzung weltweit jährlich 8,8 Millionen vorzeitige Todesfälle, in erster Linie durch die ischämische koronare Herzerkrankung, Schlaganfall, Bluthochdruck und Diabetes. Für Europa ergeben sich 800.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr. „Das entspricht einer durchschnittlichen Verkürzung der globalen Lebenserwartung um 2,9 Jahre pro Kopf. Rauchen verkürzt die Lebenserwartung um durchschnittlich 2,2 Jahre. Damit hat Feinstaub eine ähnliche Bedeutung für die öffentliche Gesundheit wie das Rauchen“, folgert der Kardiologe.
Feinstaubpartikel gelangen in die Lungenbläschen
Laut WHO schädigt Feinstaub weltweit mehr Menschen als jeder andere Luftschadstoff. Je kleiner die Partikel, desto gefährlicher: Ultrafeinstaub mit einer Größe von 0,1 Mikrometer – der Dimension eines Virus – kann nach Inhalation direkt über den Riechnerv das Gehirn erreichen und Strukturen aktivieren, die Bluthochdruck auslösen können. Staub mit einer Partikelgröße kleiner 10 (PM10) beziehungsweise 2,5 Mikrometer (PM2,5) dringt in die Lungenbläschen ein und über das Lungenepithel in die Blutbahn, wird dann von den Blutgefäßen aufgenommen und löst dort Entzündungen, hohen oxidativen Stress und auch epigenetische Veränderungen aus. Feinstaub kann zur Verengung der Gefäße führen: Die Folgen dieser sogenannten endothelialen Dysfunktion sind erhöhter Blutdruck und Gefäßschäden durch eine beschleunigte Atherosklerose, die Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Herzrhythmusstörungen auslösen kann. Die Lungen können ebenfalls betroffen sein und eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) kann folgen, genau wie Lungenentzündungen und auch Lungenkrebs. Die Forscherinnen und Forscher plädieren dafür, den in der EU geltenden Höchstwert für PM2,5 von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter für den Jahresmittelwert drastisch zu senken. Er ist fünfmal so hoch wie der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Grenzwert von 5 Mikrogramm pro Kubikmeter. Zum Vergleich: In den USA liegt der empfohlene Jahresmittelwert seit 2012 bei 12, in Kanada seit 2015 bei 0. In Australien sind es 8 Mikrogramm pro Kubikmeter, bis 2025 soll er auf 7 gesenkt werden.
Gefäßschäden durch Lärm
Neben Feinstaub ist Lärm der Faktor, der die menschliche Gesundheit am stärksten gefährdet. In Ballungsräumen und Städten sind laut der Europäischen Umweltagentur allein aufgrund des Straßenverkehrs mehr als 113 Millionen Europäer täglich einem Lärmpegel von über 55 Dezibel (dB) ausgesetzt. 22 Millionen müssen den Lärm von Schienen, 4 Millionen von Flugverkehr ertragen, die in ihrem Tagesmittelwert mit 70 bis 70 dBA deutlich über diesen Grenzwerten liegen.
Bei 6,5 Millionen Menschen verursacht Lärm schwere Schlafstörungen. Lärmwerte von über 100 dBA schädigen das Hörorgan. Geräusche zwischen 50 und 60 Dezibel - das entspricht einem Gespräch - stören bereits die Aufmerksamkeit, Kommunikation und auch den Schlaf und erzeugen damit eine Belästigungsreaktion, die sogenannte „Annoyance": Man ärgert sich darüber. Dies wiederum bedeutet Stress und damit verbunden eine Aktivierung des Sympathikus und eine vermehrte Ausschüttung von Cortison aus der Nebennierenrinde. Thomas Münzel hat das 2021 gemeinsam mit Mette Serensen und Andreas Daiber im Fachartikel „Transportation noise pollution and cardiovascular disease in der Zeitschrift Nature Review Cardiology beschrieben.
Chronischer Stress wiederum fordert die Ausbildung von Risikofaktoren wie arterieller Hypertonie und von erhöhtem Cholesterin- und Glukosespiegel. Die Folge sind ein manifester Bluthochdruck, Herzinfarkte, Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen und Schlaganfälle. Weiterhin psychische Störungen wie Angststörungen und Depression oder Demenz - und hier insbesondere der Alzheimer-Subtyp.
In Experimenten mit Mäusen fand Thomas Münzels Arbeitsgruppe heraus, dass Fluglärm bereits nach 24 Stunden Gefäßschaden auslöst. Im Vergleich zu Mäusen, die keinem Fluglärm ausgesetzt waren, stieg bei den lärmbelasteten Tieren die Zahl der freien Radikale in den Gefäßen an und diese zeigten deutliche Entzündungsreaktionen. Bei Versuchen mit gesunden Probanden führte die Simulation von 30 bzw. 60 nächtlichen Überflügen zu endothelialer Dysfunktion, grenzwertigem Blutdruckanstieg und Schlafstörungen. Bei Patienten mit koronaren Herzerkrankungen waren die Auswirkungen ausgeprägter und die Blutdruckanstiege noch stärker. Interessanterweise konnten die Gefäßschäden durch die Akutgabe von Vitamin C behoben werden, was für eine kausale Rolle von Radikalen bei der Gefäßfunktionsstörung spricht. Neuere Daten aus der Schweiz konnten ebenfalls nachweisen, dass insbesondere Nachtfluglärm die Entstehung eines akuten Herzinfarktes triggern kann.
LAUT WHO GEHEN JÄHRLICH MINDESTENS 1,6 MILLIONEN LEBENSJAHRE DURCH VERKEHRSLÄRM VERLOREN.
Fluglärm vor einem Herzinfarkt kann sich auch auf die Pumpfunktion des Herzens auswirken. Negative Effekte auf Patienten, die einen akuten Herzinfarkt haben, beschreiben die Autoren einer translationalen Studie, die tierexperimentelle Untersuchungen und eine Bestätigung der Daten im Rahmen der bevölkerungsbasierten Gutenberg-Gesundheitskohortenstudie beinhaltete. „Unsere Ergebnisse zeigen erstmals, dass Menschen mit einem akuten Herzinfarkt klinisch einen schlechteren Verlauf haben, wenn sie in der Vergangenheit einer Lärmbelastung ausgesetzt waren“, erläutern Michael Molitor, Post-Doc-Vertreter des DZHK, und Philip Wenzel, Principle Investigator des DZHK, zwei der Autoren der Studie.
Grenzwerte senken, Städte umbauen
Bewegung und Ernährung können gegen die Belastungen helfen. Das Forschungsteam um Thomas Münzel interessierte auch die Rolle der „endothelial alpha1 AMPK", der sogenannten AMP-aktivierten Proteinkinase. Dieses Enzym wird aktiviert, um Energiereserven aufzubauen, wenn Zellen „hungern". Frühere Studien wiesen nach, dass es auch entzündungshemmend und antioxidativ wirkt. Deshalb verordnete das Versuchsteam den Labormäusen ein längeres „Sportprogramm" im Laufrad. Untersucht wurde auch, wie sich eine Diät in einem Zeitraum von acht Wochen auswirkt, denn Hungern aktiviert auch die AMPK-Kinase. Es zeigte sich, dass sowohl Fasten als auch Sport die negativen Auswirkungen der Lärmbelastung nahezu vollständig aufheben. Positiv auf die Gesundheit der Versuchstiere wirkte sich auch die Gabe eines AMPK-Aktivators aus, der in seiner Wirkweise dem des Diabetes-Medikaments Metformin entspricht.
Die experimentellen Ergebnisse, hofft Münzel, könnten einen Ansatz für klinische Studien liefern. Den größten Effekt jedoch, um das globale Gesundheitsrisiko von Verkehrslärm nachhaltig zu minimieren, sehen die Wissenschaftler in der Einführung der von der WHO empfohlenen Grenzwerte als EU-Gesetze. Darüber hinaus seien Kommunen, Architekten und Stadtplaner gefordert, Ballungsräume menschengerecht und damit gesundheitsfreundlich zu gestalten: Dazu gehören unter anderem eine emissionsfreie Energieerzeugung, kurze Arbeits- und Einkaufswege, autoreduzierte Zonen, die Schaffung von Grünflächen und Parks, der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und die Förderung von Fuß- und Radverkehr. Das sei dringend notwendig, denn bereits heute leben weltweit über 70 Prozent der Menschen in Städten und sind dort hohen Umweltbelastungen ausgesetzt.