Wenn Dr. Nicole Maison am „Dr. von Haunerschen Kinderspital“ in München ihre wöchentliche Asthmasprechstunde abhält, sieht sie dort häufig Kinder wie den fünfjährigen Jonas (Anm.: Name von der Redaktion geändert). Der Junge leidet an wiederkehrenden Episoden einer heftigen Bronchitis. Nachts schnürt sie ihm manchmal fast die Luft ab, dann atmet er pfeifend und kann vor Angst kaum schlafen. Seine Hausärztin hat ihn an die Klinik überwiesen, um abzuklären, ob Jonas Asthmatiker ist oder die Entzündungen seiner Bronchien viral bedingt sind. Asthma ist die chronische Entzündung einer überempfindlichen Bronchialschleimhaut. Es verengt die tiefen Atemwege und behindert das Ausatmen. „Asthma hat viele unterschiedliche Ursachen und Verläufe“, sagt Nicole Maison. „Eine sorgfältige Diagnose ist notwendig, um die beste Behandlung zu wählen.“ Jonas ist gerade alt genug für eine solche Diagnostik.
Jüngere Kinder sind noch zu unreif für Lungenfunktionstests, die ihr Atemvolumen und ihren Atmungswiderstand erfassen. Bevor sie Jonas diesen Tests unterzieht, befragt Nicole Maison dessen Eltern nach der Krankengeschichte des Kindes und der Familie. Dann hört sie das Kind gründlich ab und prüft, ob sein Brustkorb eventuell verformt ist. Sie nimmt ihm Blut ab, das im Labor auf Entzündungsmarker untersucht wird. Weiterhin wird ein Röntgenbild gemacht und die Menge des Stickstoffmonoxids (NO), das Jonas möglicherweise ausatmet, gemessen. Das Gas wird von allergisch entzündeten Bronchialzellen gebildet.
„Breathomics“ stehen noch am Anfang
„Mit diesen Untersuchungen kann ich Kinder mit allergischem Asthma identifizieren“, erklärt Nicole Maison. Die kleinere Gruppe von Patientinnen und Patienten, deren Asthma nicht allergisch bedingt ist, sei damit allerdings nur schwer zu charakterisieren. „Hierfür könnte uns das Exposom wertvolle Hinweise geben.“ Dieses spiegelt sich in den flüchtigen organischen Verbindungen wider, die wir ein- und ausatmen – in bis zu 250 verschiedenen Kohlenwasserstoffen wie beispielsweise Carbonsäuren, Aldehyden, Alkoholen oder Aromaten. „Breathomics“ heißt die junge wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Analyse dieser sogenannten „volatile organic compounds“ (VOCs) in der Atemluft beschäftigt. Den überschwänglichen Optimismus mancher Vertreterinnen und Vertreter von „Breathomics“, die überzeugt sind, dass schnell erhobene VOC-Profile schon bald ausreichen, um eine differenzierte Asthmadiagnose zu stellen, teilt DZL-Forscher Dr. Olaf Holz jedoch nicht. „Bis dahin liegt noch ein langer Weg vor uns“, sagt der Bioingenieur vom Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin in Hannover. Die pathologisch relevanten VOCs aus dem Breathom herauszufiltern, sei ähnlich schwierig wie in einer großen Musikschule, an deren offenen Fenstern gerade ein Karnevalszug vorbeizieht, falsche Töne herauszuhören. „Aber wir machen Fortschritte.“
DAS EXPOSOM SPIEGELT SICH
IN DEN FLÜCHTIGEN ORGANISCHEN VERBINDUNGEN WIDER, DIE WIR EIN- UND AUSATMEN.
VOLATILE ORGANIC COMPOUNDS
Flüchtige organische Verbindungen, im Englischen: Volatile Organic Compounds, werden kurz als VOCs bezeichnet. Diese leicht verdunstenden Chemikalien stam- men aus Quellen wie Haushaltsprodukten, Farben, Lösungsmitteln und Fahrzeugemissionen. Sie tragen zur Luftverschmutzung und zur Bildung von bodennahem Ozon und Smog bei. VOCs können gesundheitliche Probleme wie Atemwegsreizungen und Kopfschmerzen verursachen.
Kinder mit Asthma pusten mehr Schadstoffe aus
Zusammen mit Maison hat Holz bei der Untersuchung des Atems von 142 Kindern aus der ALLIANCE-Kohorte (siehe Kasten) jüngst herausgefunden, dass der Atem von Asthmakranken deutlich mehr Naphthalin und andere Schadstoffe enthält als der von Gesunden. „Die VOC-Analyse verrät uns also etwas über die Lebensumstände der Kinder“, so Holz. Bisher seien solche Zusammenhänge nur aus globalen Übersichtsstudien bekannt, ergänzt Maison. Daraus wisse man etwa, dass Kinder, die weniger als 100 Meter von einer vielbefahrenen Straße entfernt wohnen, dreimal häufiger an Asthma erkranken als solche, deren Zuhause mehr als 400 Meter davon entfernt liegt. „Im Breathom sehen wir dagegen die Belastung jedes einzelnen Kindes.“ Zwei Jahre nach der ersten Messung war diese Belastung immer noch vergleichbar hoch, die VOC-Profile waren reproduzierbar. Naphthalin lagert sich im Fettgewebe ein, aus dem es kontinuierlich abgeatmet wird. Das unterscheidet es von hochflüchtigen Gasen, von denen die Lunge sich rasch wieder befreit. Bevor diese experimentellen Erkenntnisse in die klinische Asthmadiagnostik eingehen, müssen sie validiert werden. Dazu werden sie mit Analysen der Luft abgeglichen, von der die Kinder, die viel Naphthalin, Toluol oder Benzol ausatmen, in ihrer Wohnung und an ihrem Wohnort umgeben sind. „Dann könnten wir einfache Geräte entwickeln, die uns innerhalb von zehn Minuten sagen, ob ein bestimmter Schadstoff in der Atemluft erhöht ist, so wie es sie für NO längst gibt.“
JE BESSER WIR DIE GESTÖRTEN REGULATIONSMECHANISMEN KENNEN, DESTO INDIVIDUELLER KÖNNEN WIR DIE THERAPIE GESTALTEN.
Elektronische Nasen sind zu ungenau
Bisher ist die Analyse des gesamten Spektrums ausgeatmeter VOCs mithilfe der Gaschromatographie-Massenspektrometrie, die jede einzelne flüchtige Substanz anhand ihrer Ladung und Masse bestimmt, ein sehr teures Verfahren. Als Alternative werden elektronische Nasen erforscht. Das sind Sensoren, die das Gesamtsignal aller VOCs interpretieren wie unser Gehirn einen Geruch – mit Algorithmen, die Muster erkennen. Ihnen steht Holz kritisch gegenüber: „Eine elektronische Nase erkennt nicht, wenn sie Mist misst.“ An einer apparativ aufwendigen Forschung, die einzelne VOCs als Krankheitsmarker identifiziert und validiert, führe kein Weg vorbei. Er sei der festen Überzeugung, dass dies zum Erfolg führen und den Sprung in eine spezifische Sensorik ermöglichen werde. Dank eines neuen „Receivers“ zum Sammeln von Atem nähere sich die VOC-Forschung derzeit einer Standardisierung ihrer Ansätze an. Und dank des Datenschatzes der ALLIANCE-Kohorte könne sie besser denn je technisch-experimentelle Ergebnisse mit individuellen Krankengeschichten verknüpfen.
ALLIANCE
ALLIANCE steht für All Age Asthma Cohort. Sie ist ein DZL-Flaggschiffprojekt, an dem sechs Studienzentren beteiligt sind. Ihr Ziel ist es, die Vielzahl von Ursachen, Erscheinungsformen und Krankheitsverläufen von Asthma klinisch und molekularbiologisch genau zu charakterisieren, um daraus optimale Behandlungsstrategien abzuleiten. Seit 2011 sind mehr als 1000 Asthmapatientinnen und -patienten jeden Alters sowie gesunde Probandinnen und Probanden in die ALLIANCE-Kohorte aufgenommen worden. Die Asthmakranken unter ihnen werden alle ein bis zwei Jahre umfassend untersucht, die Mitglieder der gesunden Kontrollgruppe nur einmal. So entsteht eine riesige Sammlung von Daten und Proben, die als Grundlage wissenschaftlicher Analysen dient.
Entzündungsboten im Visier
Flüchtige organische Verbindungen in der Atemluft können auch das Verständnis der pathophysiologischen Prozesse verbessern, die zur Entstehung von Asthma führen. „Je genauer wir wissen, welche Regulationsmechanismen gestört sind, desto individueller können wir die Therapie gestalten“, sagt Nicole Maison. Früher habe man alle Asthmatiker ähnlich behandelt, nämlich mit einem Cortisonspray zur Dämpfung der chronischen Entzündung und einem Medikament zur Bronchialerweiterung bei akuten Anfällen. „Heute nehmen wir auch in der Kindermedizin patiententypische Vorgänge ins Visier und greifen mit Antikörpern auf einer definierten Stufe von Entzündungskaskaden ein.“ Dazu ist es wichtig zu wissen, von welchen Zellen und Botenstoffen des Immunsystems Asthma getriggert wird. Dieses Wissen wird heute unter anderem aus der Untersuchung von Bronchialschleim abgeleitet. Dafür müssen die Kinder Kochsalz in ansteigender Konzentration inhalieren, bis sie genügend Schleim hochgehustet haben – eine anstrengende, manchmal sogar quälende Prozedur. „Es wäre eine große Erleichterung, wenn sie durch das einfache Auspusten von Luft ersetzt werden könnte.“ Erste Befunde einer belgischen Forschungsgruppe sprechen dafür, dass es Muster aus wenigen VOCs geben könnte, die das ermöglichen würden.
ATEMLUFT
Die Luft, die ein Mensch ausatmet, besteht aus Gasen, die bereits in der Atmosphäre vorhanden sind – hauptsächlich Stickstoff (N2, etwa 74 Prozent) und Sauerstoff (O2, rund 14 Prozent). Weiterhin enthält sie Spuren von anderen Gasen wie Argon (Ar), Kohlendioxid (CO2) und Wasserstoff (H2). In bestimmten Umgebungen können auch flüchtige organische Verbindungen (VOCs) vorhanden sein, die unter anderem aus den Abgasen von Autos, Industriebetrieben oder aus Haushaltsprodukten stammen.