SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)

Big Data

Wer wird in Zukunft an Diabetes erkranken? Umfangreiche Datensätze liefern neue Erkenntnisse über die heterogene Krankheit und ermöglichen präzisere Diagnosen sowie gezieltere Therapien.
Etwa 8,5 Millionen Menschen in Deutschland sind an Diabetes erkrankt. Weitere zwei Millionen leben mit der Stoffwechselkrankheit, ohne es zu wissen. Und nach Einschätzung des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) werden die Zahlen weiter steigen: auf bis zu zwölf Millionen Menschen im Jahr 2040. Typ-2-Diabetes kann jeden von uns treffen. Doch das Risiko ist ungleich verteilt. Manche Personen entwickeln es mit höherer Wahrscheinlichkeit als andere. Um dieses Risiko bestimmter Personengruppen abzuschätzen, nutzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE) Methoden der Epidemiologie. Sie betrachten seit 1994 die gesundheitliche Entwicklung von 27.500 Freiwilligen aus der Region Potsdam und versuchen rückblickend zu ermitteln, warum einige von ihnen bestimmte Krankheiten ausbilden und andere nicht.
TYP-2-DIABETES KANN JEDEN VON UNS TREFFEN.

Einfach das individuelle Risiko ermitteln

Mithilfe dieser Daten entwickelte das DIfE-Team gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom DZD den DIfE – Deutscher Diabetes-Risiko-Test* (DRT): Erwachsene zwischen 18 und 79 Jahren können damit – online oder mittels Fragebogen – kostenlos von zu Hause ermitteln, wie hoch ihr individuelles Risiko ist, innerhalb der nächsten zehn Jahre an einem Typ-2-Diabetes zu erkranken. „So können Menschen mit einem erhöhten Risiko frühzeitig aufgeklärt und über Möglichkeiten informiert werden, es zu senken", betont Dr. Catarina Schiborn, die zusammen mit Prof. Matthias Schulze am DIfE an der Entwicklung des Selbsttests gearbeitet hat. Seine hohe Aussagekraft und Vorhersagegüte wurde durch zwei unabhängige Studiengruppen mit insgesamt mehr als 32.000 Testpersonen aus ganz Deutschland bestätigt.

Personen, denen der Test ein erhöhtes oder hohes Erkrankungsrisiko attestiert, könnten womöglich schon von Diabetes oder seiner Vorstufe, dem Prädiabetes, betroffen sein. Beides lässt sich durch einen Bluttest ausschließen – oder aufdecken und behandeln. Menschen mit einem Prädiabetes sind noch nicht krank, haben aber höhere Blutzuckerwerte als Gesunde und sind anfälliger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ob und mit welchen Folgen ihre Veranlagung später in einen Diabetes münden wird, ist individuell sehr unterschiedlich. Denn die Forschung der vergangenen Jahre zeigt immer deutlicher: Diese Stoffwechselerkrankung hat viele Gesichter.
DIE FORSCHUNG DER VERGANGENEN JAHRE ZEIGT IMMER DEUTLICHER: DIESE STOFFWECHSELERKRANKUNG HAT VIELE GESICHTER.

Wichtige Schlüssel-Kohorten

Auch diese Erkenntnis verdanken die Forschenden Kohorten-Studien, in denen Freiwillige über viele Jahre regelmäßig untersucht und befragt werden. „Wir haben im DZD einige Schlüssel-Kohorten, bei denen wir durch sehr präzise Messungen zahlreiche biochemische und genetische Merkmale erfassen. Das sind sehr teure und aufwendige Studien an ausgewählten Personen, bei denen wir den Stoffwechsel über lange Zeit und auch schon vor dem Auftreten eines Diabetes sehr gründlich untersuchen. Die Veränderungen, die wir dabei dokumentieren, können wir dann Jahre später mit krankhaften Veränderungen an bestimmten Organen in Zusammenhang bringen", erklärt Prof. Dr. Robert Wagner, der beim DZD-Partner Deutsches Diabetes Zentrum in Düsseldorf (DDZ) die Arbeitsgruppe Klinisches Studienzentrum leitet.

So ließen sich anhand von Kohortenstudien des DZD-Partner-Instituts für Diabetes und Metabolismus Forschung (IDM) in Tübingen sechs Subtypen des Prädiabetes klassifizieren. Drei zeichnen sich durch ein niedriges Diabetes-Risiko aus, die drei übrigen gehen mit einem erhöhten Risiko für Diabetes und bestimmte Folgeerkrankungen einher und sind in unterschiedlichem Maße durch einen veränderten Lebensstil zu beeinflussen.
Eine definierte Patlentengruppe (elne Kohorte) wird über einen bestimmten Zeitraum beobachtet, um zu untersuchen, wie viele Personen eine gewisse Erkrankung entwickeln.
Mit dem Risiko-Test wird die Wahrscheinlichkeit ermittelt, innerhalb der nächsten zehn Jahre an einem Typ-2-Diabetes zu erkranken oder einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu bekommen:
https://drs.dife.de/

Fünf Subtypen mit unterschiedlichen Krankheitsverläufen

Wie unterschiedlich eine Diabetes-Erkrankung das Leben der Betroffenen prägt, zeigt die Deutsche Diabetes-Studie. 2009 unter Federführung des DDZ gestartet, untersucht sie den Gesundheitszustand von mehr als 1.000 Frauen und Männern mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes. Das Fazit auch hier: Es gibt fünf Subtypen, die sich durch unterschiedlich schwere Krankheitsverläufe auszeichnen. „Die aufwendige Datenerhebung mit Goldstandard-Messmethoden zeigt uns klar die Heterogenität des Diabetes. Die können wir inzwischen jedoch auch durch einfacher zu erfassende Daten wie Alter, Geschlecht, BMI, Leber- und Blutfettwerte darstellen", so Wagner. Sein Team hat diese Routinedaten mit einer innovativen Rechenmethode aufbereitet: „Darin werden auch sehr komplexe Variablen anhand messbarer Daten abgebildet." So lasse sich für Erkrankte abschätzen, welchem Subtyp sie am nächsten kommen. „Dass wir anhand einfacher klinischer Daten solche wichtigen Vorhersagen treffen können, wird die Entwicklung neuer Vorsorge- und Behandlungsmethoden massiv beschleunigen. Damit kommen wir der Präzisionsdiabetologie ein großes Stück näher", betont DDZ-Direktor Prof. Dr. Michael Roden.
Mehr Erkenntnisse könnten gewonnen werden, wenn alltägliche Informationen über Lebensgewohnhelten verfügbar wären.

Zehn Subgruppen bei jungen Menschen

Um unterschiedliche Datenquellen effektiv nutzen zu können, braucht es einheitliche Vorgaben, welche Informationen benötigt und wie diese erfasst werden. Das DZD hat einen 126 Parameter umfassenden Basisdatensatz definiert, der künftig in allen Diabetes-Studien erhoben werden soll. Auch außerhalb von Studien wäre eine flächendeckende, standardisierte Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV) wünschenswert, um Befunde und Therapieerfolge objektiv vergleichbar zu machen. Dazu wurde am Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie der Universität Ulm ein EDV-basiertes Dokumentationsprogramm für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit allen Diabetes-Typen entwickelt.

Aktuell beteiligen sich mehr als 400 Behandlungseinrichtungen aus Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Schweiz an der DPV-Initiative; sie wird vom DZD und verschiedenen EU-Institutionen gefördert. Erste DPV-Daten flossen jüngst in eine von Prof. Dr. Peter Achenbach am DZD-Partner Helmholtz Munich geleitete Studie an Kindern und Jugendlichen mit neu diagnostiziertem Diabetes ein – und brachten überraschende Ergebnisse: Erstmals konnten zehn verschiedene Subgruppen des Diabetes bei jungen Menschen identifiziert werden.
DANK EINER INNOVATIVEN RECHENMETHODE KANN ABGESCHÄTZT WERDEN, WELCHEM SUBTYP ERKRANKTE AM NÄCHSTEN KOMMEN.
Schon jetzt zeigt sich das Potenzial großer Datensätze für eine präzisere Diabetologie. Noch viel mehr ließe sich gewinnen, wenn der Forschung neben gezielt erhobenen Daten auch alltägliche Informationen über die Lebensgewohnheiten der Allgemeinbevölkerung zur Verfügung stünden, glaubt DZD-Vorstandsmitglied Prof. Dr. Martin Hrabě de Angelis:„Informationen über die gesamte Lebenszeit, ja sogar über die Generationsgrenzen hinweg, sind von besonderem Interesse, da dies zum einen die relevanten Faktoren für Gesundheit und Krankheit identifizieren beziehungsweise präzisieren kann. Zudem kann das Verständnis verschiedener Subtypen von Diabetes sowohl als longitudinales als auch als systemisches (horizontales) Problem erforscht werden. Genau dieses Wissen ist für eine zukünftige personalisierte Prävention und Therapie notwendig."
Das DZD hat elnen 126 Parameter umfassenden Basisdatensatz definiert.

NACHGEFRAGT:
EINSATZ VON GESUNDHEITSDATEN

KARIN SEYFFARTH
ist Mitglied des DZD Bürger:innen- und Patient:innenbeirats (DZD Citizens' and Patients' Advisory Board, CAB). Das CAB berät das DZD hinsichtlich der translationalen Forschungsstrategie und zu Forschungsprojekten aus der Sicht von Bürger:innen und Patient:innen.
DZG-Redaktion | Monika Offenberger
Karin Seyffarth
Frau Seyffarth, Sie sind Vorsitzende des im Herbst 2022 gegründeten Bürger:innen- und Patient:innenbeirats des DZD. Worin sehen Sie Ihre Aufgabe?
Im Austausch zwischen Forschenden und Betroffenen. Denn beide Seiten sehen die Krankheit aus völlig verschiedenen Blickwinkeln. Wir bringen die Perspektive der Patientinnen und Patienten in die Forschung ein, damit sich Studien gezielter planen lassen.
Das DZD empfiehlt, bei künftigen Studien einen umfangreichen Basisdatensatz zu erfassen. Was halten Sie davon?
Ich befürworte ganz klar den Einsatz eines Basisdatensatzes in der Diabetesforschung. Ich sehe einen immensen Vorteil darin, in möglichst vielen Studien – bestenfalls weltweit – einheitlich definierte Daten zu erheben. Das erleichtert die Vergleichbarkeit von Forschungsergebnissen.
Warum sollte man den Basisdatensatz auch in anderen Forschungsfeldern erheben?
Dann können auch eigentlich nicht auf Diabetes ausgerichtete Studien unerwartete Zusammenhänge aufdecken. Denn Diabetes geht mit Folgeerkrankungen an sehr vielen Organen einher; da kann jede neue Spur bedeutsam sein und die Forschung zu Prävention und Heilung voranbringen.
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