Das Papier quoll links und rechts vom Schreibtisch runter, weil der genetische Code so lang war.
DZG-Redaktion | Claudia Doyle
Jens Kleesiek
Herr Kleesiek, Sie haben Medizin und Bioinformatik studiert. Warum gerade diese Kombination?
Ich habe mich schon während des Abiturs für Medizin und Informatik interessiert, mich aber erst mal für Medizin eingeschrieben. Während meiner Doktorarbeit musste ich dann unglaublich viele langweilige Sachen machen.
Was war denn so langweilig?
Stundenlang habe ich eingefärbte Zellen unter dem Mikroskop gezählt. Oder mit einem Textmarker in der Hand in einem Genom nach genau der richtigen Kombination von DNA-Basen gesucht. Das Papier quoll links und rechts vom Schreibtisch runter, weil der genetische Code so lang war. Da dachte ich mir: Was mache ich hier eigentlich? Das sind doch Aufgaben für einen Computer! Also habe ich mich für Bioinformatik eingeschrieben und bin nach meiner Promotion in Bioinformatik zurück in die Medizin.
Genauer gesagt in die Radiologie.
Richtig. Denn da gibt es Daten, vor allem Bilddaten, auf die ich mein technisches Know-how anwenden kann. Und es herrscht wie überall Fachkräftemangel. In Zukunft wird es gar nicht mehr machbar sein, die Aufgaben in diesem Gebiet ohne den Einsatz von Unterstützungstools abzuarbeiten.
Wie genau kann künstliche Intelligenz die medizinischen Fachkräfte entlasten?
Zum einen, indem sie Arbeitsabläufe effizienter macht. Sie kann passende Termine für die Patientinnen und Patienten finden, Wartezeiten reduzieren und Daten aus Formularen übertragen. Außerdem ist KI unübertroffen darin, konstant zu arbeiten: Sie kennt zum Beispiel kein Mittagstief.
Kann KI auch Tumore diagnostizieren?
Das kann sie. Bild- und Mustererkennung ist eine ihrer großen Stärken.

Können Sie mir ein Beispiel geben?
Wir sind aktuell an einem Punkt, wo unsere Modelle genau eine Aufgabe übernehmen können. Single-Task-Algorithmus heißt das. Die KI kann zum Beispiel auf einem CT-Scan einen Lebertumor identifizieren und auch seine Entwicklung im Behandlungsverlauf überwachen. Dafür eignet KI sich sogar besonders gut, denn sie legt immer dasselbe Maß an und sieht genau, ob der Tumor unter der Behandlung schrumpft oder wächst. Diese KI ist aber gleichzeitig relativ dumm. Wenn sie auf Leberkrebs spezialisiert ist und man ihr ein Bild von einem Lungentumor zeigt, wird sie damit nichts anfangen können. Die ganze Denkleistung liegt zurzeit noch beim Menschen.
Das könnte sich aber bald ändern?
Neuere Modelle haben tatsächlich das Potenzial, sämtliche Bilder aus der Radiologie zu erfassen. Wenn sie mit Sprachmodellen gekoppelt sind, können sie ihre Ergebnisse auch in Worte fassen. Man kann sie zum Befund befragen und bekommt eine verständliche Antwort.
Wird KI bald selbstständig Tumore diagnostizieren?
Das vielleicht nicht. Aber aktuell gilt in der Radiologie das Vier-Augen-Prinzip: Der Assistenzarzt schreibt den Befund, der Oberarzt schaut mit drauf. Ich kann mir vorstellen, dass sich das in Zukunft ändert und die KI als das zweite Paar Augen eingesetzt wird. Neue Technologien einzusetzen, um die Versorgung von Patientinnen und Patienten zu verbessern, ist das Ziel unserer translational ausgerichteten Arbeit im DKTK.
Wird künstliche Intelligenz auch wichtig für die Früherkennung von Krebs?
Es ist immer schwierig, solche Entwicklungen vorherzusagen. Aber ich glaube, KI kann da eine sehr wichtige Rolle einnehmen. Sagen wir, ein Arzt macht einen CT-Scan von einem Patienten, bei dem der Verdacht auf eine Oberbaucherkrankung vorliegt. Nun ist auf dem Bild aber auch die Wirbelsäule zu sehen, und die KI betrachtet diese ebenfalls sehr genau: Vielleicht erkennt sie dann, dass ein bisher unentdecktes Prostatakarzinom schon in die Knochen gestreut hat – was der Mensch hier unter Umständen nicht ausreichend berücksichtigt hätte. KI ist sehr gut darin, Details zu sehen.
Damit KI mithelfen kann, brauchen Kliniken und Forschungszentren die passende technische Infrastruktur. Das DKTK hat dafür die Joint Imaging Plattform (JIP) ins Leben gerufen, die Sie federführend mitentwickelt haben. Welche Vorteile bringt diese Plattform?
Die große Idee dahinter ist, dass wir gemeinschaftlich und zentrumsübergreifend an Daten arbeiten können. Denn bisher war es aus Datenschutzgründen nicht immer möglich, Bilder von Patientinnen und Patienten zentral auszuwerten. Wir schicken jetzt unsere Algorithmen an die Forschungsgruppen, die Bildanalyse läuft lokal und nur die Ergebnisse werden mit allen Zentren geteilt. Davon profitieren nicht zuletzt Menschen mit seltenen Erkrankungen, da wir unter Umständen nur so auf ausreichende Fallzahlen kommen können.
Das DKTK JOINT FUNDING-PROGRAMM unterstützt innovative, kollaborative Forschungsprojekte mit translationaler Ausrichtung sowie auf Studien aufbauende oder studienbegleitende Projekte, um beispielsweise neue wissenschaftliche Fragestellungen experimentell abzuklären.
NEOLAP/SUBPAN
Bauchspeicheldrüsenkrebs kommt in zwei Subtypen vor. Weil die Tumore jedoch sehr heterogen sind, ist es schwierig, sie anhand von Biopsien zu unterscheiden. Ziel des DKTK Joint Funding-Projekts NEOLAP/SUBPAN war es, mithilfe von KI die Tumore anhand von Bilddaten zu charakterisieren.
MEMORI
Speiseröhrenkrebs lässt sich mit einer Chemotherapie behandeln. In einigen Fällen ist allerdings eine intensivierte Therapie notwendig. Im DKTK Joint Funding-Projekt MEMORI sollte KI mithilfe von Bilddaten die Tumore einer der beiden Fallgruppen zuordnen, damit von Anfang an mit der richtigen Therapie behandelt werden kann.
Neben Ihrer Arbeit an der JIP waren Sie auch an dem standortübergreifenden DKTK-Projekt NEOLAP/SUBPAN beteiligt. Dabei sollte eine KI darauf trainiert werden, anhand von Bilddaten unterschiedliche Subtypen von Bauchspeicheldrüsenkrebs zu erkennen. Warum ist das wichtig?
Welcher Subtyp darüber entscheidet, welche Behandlung zum Einsatz kommt. Krebs kann unterschiedlich sein, obwohl er im gleichen Organ auftritt. Der heilige Gral ist es nun, anhand der Bilddaten aus der Radiologie und der Histologie, also den gefärbten Zellen, vorherzusagen, welche Therapie für den jeweiligen Krebs am besten geeignet ist. Das kann man zwar auch erkennen, indem man das Genom der entarteten Zellen entschlüsselt oder eine Spezialfärbung anfertigt. Aber beides dauert länger und ist teurer.
Und konnte KI die Subtypen anhand der Bilddaten richtig zuordnen?
Sie gibt zumindest sehr gute Hinweise. Vermutlich wird man zunächst weiterhin auf die Spezialfärbung setzen, aber man weiß schon, wonach man suchen muss.
Im Projekt MEMORI sollte die KI ihr Können bei der Klassifizierung von Speiseröhrenkrebs unter Beweis stellen. Hat sie das gut gemeistert?
Bei Speiseröhrenkrebs ist es so, dass ein Teil der Tumore auf eine Chemotherapie anspricht. Das ist nach etwa zwei bis drei Wochen auch auf den PET-Scans sichtbar. Ein anderer Teil hingegen braucht eine intensivierte Chemotherapie. Wir konnten mit unserem Algorithmus mit 78-prozentiger Genauigkeit vorhersagen, ob die übliche Chemo anschlagen wird oder nicht. Das ist deutlich besser als nur Zufall.
Wenn die KI also sagt, dass ein Tumor vermutlich nicht auf die übliche Therapie anschlagen wird, dann könnte man gleich mit einer intensivierten Therapie beginnen?
So ist es. Die Patientinnen und Patienten könnten von Anfang an die richtige Behandlung bekommen und würden Zeit sparen.
Was fehlt noch, bis diese Algorithmen wirklich den Klinikalltag erreichen?
Dafür müssen drei Dinge erfüllt sein. Erstens muss es das Leben von Patientinnen und Patienten signifikant verbessern. Wenn also dank KI mehr Menschen eine Krebserkrankung überleben als ohne, dann wäre das gegeben. Zweitens muss es aus ärztlicher Sicht massiv Zeit sparen. Und drittens muss es mit den Krankenkassen abgerechnet werden können. Ohne Abrechnungsziffer sieht der Arzt schließlich kein Geld für seine Leistung. Wir sind gerade in einer spannenden Übergangsphase. Viele Dinge werden entwickelt, sind aber noch nicht reif für den klinischen Einsatz. Bisher kenne ich keinen Algorithmus, der alle drei Kriterien erfüllt.
Wie sehen Sie die Zukunft der Zusammenarbeit zwischen KI-Modellen und medizinischen Fachkräften in der Onkologie?
Ich glaube, dass künstliche Intelligenz das menschliche Denken unterstützen wird. Ich vergleiche KI gern mit dem Auto, das beim Rückwärtsfahren piepst, wenn man sich einem Hindernis nähert: Sie ist ungemein hilfreich darin, Dinge zu sehen, die der Mensch in diesem Moment vielleicht nicht wahrnimmt.

DER ALGORITHMUS KANN MIT 78-PROZENTIGER GENAUIGKEIT VORHERSAGEN, OB DIE LEICHTE CHEMOTHERAPIE BEI SPEISERÖHRENKREBS ANSCHLAGEN WIRD.