SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)
Menschen mit Demenz profitieren von Hilfsangeboten, die über die reine Pflege hinausgehen. Im Zentrum solcher Netzwerke stehen speziell ausgebildete Pflegemanager.

Wissen was fehlt

DIE LEBENSQUALITÄT VON DEMENZPATIENTEN STEIGT SIGNIFIKANT, WENN HILFSANGEBOTE KOORDINIERT WERDEN.
Die Sache mit den Stufen ist Ulrike Kempe gleich aufgefallen, als sie ihren neuen Patienten in seinem Haus besuchte: „Er kam die kleine Treppe an der Eingangstür nicht mehr hoch", erinnert sich die Krankenpflegerin, „aber seinem Hausarzt hat er davon noch nie etwas gesagt." Ihr Patient leidet an Demenz, und Ulrike Kempe begleitete ihn über viele Jahre hinweg. Wo er Hilfe benötigte, was ihm im heimischen Umfeld fehlte, was ihm das Leben erleichterte – das stellte sie rasch fest, und meistens konnte sie Abhilfe schaffen. So wie mit den Stufen zur Eingangstür, die inzwischen mit einer Rampe überbrückt sind, bezahlt von der Krankenkasse.
„ER KAM DIE KLEINE TREPPE AN DER EINGANGSTÜR NICHT MEHR HOCH ABER SEINEM HAUSARZT HAT ER DAVON NOCH NIE ETWAS GESAGT."
Wolfgang Hoffmann nickt zufrieden, wenn er solche Beispiele aus der Praxis hört. „In unserer Studie hatten die Teilnehmer mit dem neuen Versorgungskonzept eine signifikant höhere Lebensqualität als die Patienten aus der Kontrollgruppe", sagt er. Hoffmann ist Direktor des Instituts für Community Medicine an der Universitätsmedizin Greifswald und Sprecher des Standorts Rostock/Greifswald beim Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).

Mit seinem Team war er federführend bei einer außergewöhnlichen Studie, die auch international für Furore sorgte: DelpHi-MV heißt sie, „Demenz: lebensweltorientierte und personenzentrierte Hilfen in Mecklenburg-Vorpommern", und begann im Jahr 2012. „In der Studie haben wir 650 Demenzpatienten über mehrere Jahre begleitet", erläutert Wolfgang Hoffmann. Die Probanden wurden durch ihre Hausärzte über die Studie informiert, alle waren zu Studienbeginn über 70 Jahre alt und wurden zu Hause betreut.

Neueste Erkenntnisse aus der Versorgungsforschung

„In die Studie haben wir ein dichtes Netzwerk von Hilfsangeboten einbezogen", sagt Hoffmann. Im Kern dieser Netzwerke stehen neben den beteiligten Ärzten Krankenpfleger wie Ulrike Kempe, die aufwendig zu sogenannten „Dementia Care Managern" weitergebildet werden. Das Curriculum, das rund 870 Theorie- und 320 Praxisstunden umfasst, hat eine Wissenschaftlergruppe um Wolfgang Hoffmann entwickelt. Es spiegelt die neuesten Erkenntnisse der Demenz-Versorgungsforschung wider, die somit den Patienten unmittelbar zu Gute kommen.
„IN DIE STUDIE HABEN WIR EIN DICHTES NETZWERK VON HILFSANGEBOTEN EINBEZOGEN"
Die konkreten Wirkungen konnten die Wissenschaftler bereits nach einem Jahr Beobachtung präzise nachweisen – auch deshalb, weil es eine Kontrollgruppe gab: Die Hälfte der beteiligten Patienten wurde von Dementia Care Managern betreut, die andere Hälfte bekam die Versorgung, wie sie bislang üblich war.

„Die Patienten, die von den speziell ausgebildeten Pflegefachkräften betreut wurden, hatten weniger psychiatrische Probleme, wurden häufiger anti-dementiv behandelt und hatten insgesamt ein besseres Medikamenten-Management. Außerdem waren die Angehörigen spürbar entlastet", bilanziert Wolfgang Hoffmann. „Das waren unsere primären Ziele, und wir konnten zeigen: Sie lassen sich tatsächlich erreichen."

Probleme, die der Arzt nicht mitbekommt

Der wichtigste Schlüssel dazu waren die Netzwerke, die denkbar eng geknüpft sind. „Am Anfang der Studie war ich jede Woche bei den Patienten zu Hause, sprach intensiv mit ihnen und ihren Angehörigen", erinnert sich Dementia Care Managerin Ulrike Kempe. Dadurch entstand ein Vertrauensverhältnis, und sie erfuhr von Problemen, von denen ein Hausarzt in seiner Praxis oft nichts mitbekommt – wenn ein Patient schwer hört oder schlecht sieht zum Beispiel oder wenn er nachts Probleme mit der Inkontinenz hat.
Auf dieser Grundlage konnte Kempe dann gezielt das Netzwerk aktivieren: den ambulanten Pflegedienst etwa oder die Pflegeberatung bei der Krankenkasse. Sie konnte Tipps geben, an wen man sich für Hilfsmittel wie eine Toilettensitz-Erhöhung wenden kann oder wo es in der Nähe Angehörigengruppen gibt, in der sich Kinder oder Ehepartner von Demenzkranken austauschen.
„NACH DIESEN ERSTEN KONTAKTEN WAR ICH DANN EINMAL IM HALBEN JAHR WIEDER BEI DEN PATIENTEN UND SCHAUTE, WIE SICH DIE SITUATION ENTWICKELT HAT UND WO SIE WEGEN DER FORTSCHREITENDEN KRANKHEIT VIELLEICHT ANDERE ODER EINFACH MEHR UNTERSTÜTZUNG BENÖTIGEN"
Ulrike Kempe
Hilfen für einen lebenswerten
Alltag

Ärzte und Pfleger Hand in Hand

Ein bemerkenswertes Ergebnis der Studie ist, dass sich die Zusammenarbeit zwischen Pflegern und Ärzten deutlich verbessert hat. 85 Prozent der Vorschläge, die von Pflegern kamen, wurden von den Hausärzten unterstützt, viele Aufgaben haben diese gleich wieder zurückdelegiert an die Pfleger. „Vorher war es nicht üblich, dass Nicht-Ärzte so viele der Aufgaben übernehmen", heißt es bei den DZNE-Wissenschaftlern. Aber die Studie zeigte: Viel Unterstützungsbedarf haben die Demenzpatienten nicht nur im medizinischen Bereich, sondern auch bei allen Fragen aus dem Alltag – von sozialrechtlicher Beratung bis hin zu konkreter pflegerischer Hilfe.
VERTRAUEN AUFBAUEN:
DIE PFLEGEMANAGER BESUCHEN DIE PATIENTEN ANFANGS EINMAL WÖCHENTLICH.
Das Ausmaß des nicht-medizinischen Beratungsbedarfs hat selbst die Wissenschaftler überrascht. Das seien Bereiche, die ein Hausarzt allein gar nicht abbilden könne. Ähnliche Schlussfolgerungen ergeben sich aus einer ganz anderen Demenzstudie, bei der das DZNE ebenfalls federführend war. DemNet-D heißt sie, in ihr wurden bundesweit Demenznetzwerke wissenschaftlich begleitet. Anders als bei DelpHi-MV war es eine reine Evaluationsstudie, in der bereits bestehende Netzwerke im Mittelpunkt standen.

13 von ihnen nahmen daran teil, in denen sich insgesamt etwa 560 Demenz-Patienten und ihre Angehörigen zusammengeschlossen haben. Auch hier zeigte sich, wie wichtig ein effizientes Zusammenwirken von verschiedenen Beteiligten ist – und dass Netzwerke die Situation der Betroffenen erheblich verbessern können.

Ausbildung für Dementia Care Management

Wolfgang Hoffmann und die anderen Forscher vom DZNE kümmern sich derzeit um mehrere Nachfolgeprojekte, in denen sie nahtlos an die Ergebnisse der ersten Studien anknüpfen: Während bislang schon mehr als 100 Krankenpfleger die Weiterbildung zu Dementia Care Managern durchlaufen haben, soll das Konzept jetzt in die Breite getragen werden, möglicherweise sogar mit einer eigenen DZNE-School of Dementia Care Management.

Außerdem untersuchen die Forscher, wie sich die Kooperation zwischen Hausarzt und Krankenpflegern besser definieren lässt, damit die Aufgaben klar verteilt sind. Und in einem weiteren Projekt geht es darum, bei der medizinischen Versorgung der Demenz-Patienten auch die Angehörigen der Patienten stärker mit einzubinden.

„Wir merken bei unseren Projekten, dass wir oft offene Türen einrennen", sagt Wolfgang Hoffmann: Schon in die DelpHi-MV-Studie waren mehr als zehn Prozent aller Hausärzte in Mecklenburg-Vorpommern einbezogen. „Die Projektbeteiligten von Ärzten über Apotheker bis hin zu Pflegern arbeiten auch außerhalb der Studie besser zusammen. Pflegedienste sind jetzt stärker für die besonderen Bedürfnisse der Demenzpatienten sensibilisiert, es entstanden mehrere Angehörigengruppen", bilanziert Wolfgang Hoffmann.

Für den Wissenschaftler ist das ein ausgesprochen positives Erlebnis: „Interventionsstudien wie DelpHi-MV sind extrem aufwendig, aber aus meiner Sicht lohnen sie sich gerade deshalb, weil neben den qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Ergebnissen viele Strukturen entstehen, die es vorher einfach nicht gab."
„IN DER STUDIE HABEN WIR 650 DEMENZPATIENTEN ÜBER MEHRERE JAHRE BEGLEITET."
Wolfgang Hoffmann
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