SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)

Abnehmen beginnt im Kopf

Das Gehirn bestimmt, ob der Stoffwechsel in anderen Organen des Körpers funktioniert. Reagiert es nicht empfindlich genug auf Insulin, nehmen Leber-, Fett- und Muskelgewebe zu wenig Glukose aus dem Blut auf. DZD-Studien untersuchen neue therapeutische Möglichkeiten, um die Insulinempfindlichkeit im Gehirn wiederherzustellen.
WENN DAS GEHIRN EMPFINDLICH AUF INSULIN REAGIERT, KÖNNEN SPORT UND GESUNDE ERNÄHRUNG DAS GEWICHT STÄRKER REDUZIEREN.
Resistenz klingt nach einer guten Sache. Denn nach der gängigen Definition versteht man darunter die Widerstandsfähigkeit gegen schädliche Umwelteinflüsse wie Krankheitserreger oder Klimaextreme. Im menschlichen Körper aber kann sich die Resistenz gegen Insulin richten – und das lebenswichtige Hormon daran hindern, seine Aufgaben zu erfüllen. Die Insulin-Resistenz führt zu massiven Stoffwechselstörungen, die eine Fettleibigkeit verstärken und in Diabetes münden können. Denn ohne Vermittlung durch Insulin gelangen die mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate nicht mehr ins Muskel- und Fettgewebe, wo sie als Energiespender benötigt werden. Dort fungiert das Hormon als eine Art Türschloss für Zuckermoleküle: Nur wenn es an passgenaue Insulinrezeptoren andockt, öffnen die Zellen ihre Pforten für Glukose. Eine einzelne Muskelzelle besitzt mehrere hunderttausend Ankerstellen für das Hormon. Wie kann es dazu kommen, dass sie dennoch ihren Pförtner-Job nicht mehr richtig machen?

Warum haben Nervenzellen Insulinrezeptoren?

„Darauf gibt es noch keine befriedigende Antwort. Doch es deutet immer mehr darauf hin, dass das Gehirn dabei eine wichtige Rolle spielt“, sagt Prof. Dr. Stephanie Kullmann. Die Neurowissenschaftlerin arbeitet am Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen von Helmholtz Munich an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen (IDM) und an der Abteilung für Diabetologie und Endokrinologie des Universitätsklinikums Tübingen. Mit ihrer Forschung knüpft sie an Erkenntnisse aus ihrer Fachdisziplin, die schon in den 1970er-Jahren gewonnen wurden: Damals hat man entdeckt, dass es auch im zentralen Nervensystem Insulinrezeptoren gibt. Seither wird darüber gerätselt, welche Funktion sie dort erfüllen. „Unser Gehirn verbraucht enorme Mengen Glukose. Doch anders als die peripheren Organe wie Leber und Muskeln benötigt es kein Insulin, um weniger Glucose freizusetzen bzw. mehr Glucose aufzunehmen; es besitzt einen unabhängigen Transportmechanismus“, erklärt Kullmann. „Also stellt sich die Frage, warum Nervenzellen überhaupt Insulinrezeptoren haben.“

Das beschäftigt auch Prof. Jens Brüning, heute Direktor des MPI für Stoffwechselforschung in Köln, einem Assoziierten Partner des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung DZD. Mit Versuchen an Mäusen, deren Insulinrezeptoren im Gehirn gezielt inaktiviert worden waren, gelang dem Molekularbiologen und Mediziner eine bahnbrechende Entdeckung: Diese eigentlich gesunden Mäuse entwickelten Adipositas und weitere Stoffwechselstörungen – obwohl ihre Insulinrezeptoren im restlichen Körper intakt waren. Damit war der Beweis dafür erbracht, dass das Gehirn die zentrale Kontrolle über den peripheren Insulinstoffwechsel hat. Und dass Störungen dieses Stoffwechsels im Kopf beginnen.

Insulin wirkt im Gehirn unterschiedlich stark

Heute wissen wir, dass die Wirkung des Insulins im Gehirn verschiedener Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Bei manchen sind die Nervenzellen sehr sensibel gegenüber dem Hormon, andere reagieren nur schwach darauf oder sind vollends resistent dagegen. Das hat weitreichende Folgen für die Gesundheit der Betroffenen, wie Stephanie Kullmann in einer 2020 abgeschlossenen Langzeitstudie zeigen konnte: Demnach bestimmt der Grad der Insulinresistenz im Kopf, ob und wie stark übergewichtige Menschen von einer Änderung ihres Lebensstils profitieren. Personen, deren Gehirn empfindlich auf das Hormon reagiert, können durch Sport und gesunde Ernährung ihr Gewicht stärker reduzieren als Personen mit geringerer Insulinempfindlichkeit. Eine höhere Insulinsensitivität wirkt sich zudem langfristig günstiger auf das Gewicht und die Verteilung des Körperfetts aus: Auch neun Jahre nach einer 24-monatigen Lebensstilintervention hatten die untersuchten Männer und Frauen nur wenig neue Fettmasse angesetzt. Menschen mit erhöhter Insulinresistenz im Gehirn verloren dagegen nur in den ersten neun Monaten des Programms leicht an Gewicht; danach nahmen sie wieder zu und lagerten wieder mehr Bauchfett an. Und das, obwohl alle Beteiligten dasselbe Studienprogramm absolviert hatten.
Ist es also Schicksal, wie empfänglich das Gehirn einer Person auf den Botenstoff Insulin ist? Oder lässt sich die Resistenz beeinflussen und womöglich sogar rückgängig machen? Zwei aktuelle Studien von Stephanie Kullmann und ihren KollegInnen vom IDM liefern erste Antworten auf diese entscheidende Frage. An der ersten nahmen 40 Menschen teil, die bereits an einer Vorstufe des Typ-2-Diabetes erkrankt waren: 20 von ihnen nahmen acht Wochen lang den bereits als Diabetes-Medikament zugelassenen Wirkstoff Empagliflozin ein; weitere 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kontrollgruppe bekamen dagegen ein Scheinmedikament, ein sogenanntes Placebo. In der zweiten Studie unterzogen sich 21 übergewichtige und fettleibige Erwachsene acht Wochen lang einem medizinisch betreuten Ausdauertraining. Vor und nach den Behandlungen wurde die Insulinempfindlichkeit bestimmt. Dazu bekamen alle über ein Nasenspray Insulin verabreicht, sodass es ohne Umwege über den peripheren Stoffwechsel direkt ins Gehirn gelangte. Um die Wirkung des Hormons sichtbar zu machen, wurden 30 Minuten später mittels einer funktionellen Magnetresonanztomographie Bilder vom Gehirn der Teilnehmenden angefertigt.
FÜR MENSCHEN, DIE KAUM VON MEHR BEWEGUNG PROFITIEREN, KÖNNTEN MEDIKAMENTÖSE THERAPIEN IN BETRACHT KOMMEN.

Suche nach präzisen Behandlungsformen

Die Auswertung der Aufnahmen zeigte ganz klar: Sowohl die Gabe von Empagliflozin als auch regelmäßiger Sport hatten einen messbaren Einfluss auf die Insulinresistenz im Gehirn. Das Trainingsprogramm hatte dazu geführt, dass das Hormon seinen Einfluss wieder ähnlich gut ausüben konnte wie bei normalgewichtigen Personen. „Insulin wirkt sehr stark in dem Netzwerk in unserem Gehirn, das mit Belohnung arbeitet und bestimmt, wie wir Entscheidungen treffen. Und dieses Netzwerk reagiert auf Sport. Wenn also Personen ihre Fitness gesteigert und in ihren Muskeln die Zellatmung verbessert haben, wurde diese Gehirnregion durch Vermittlung von Insulin angeregt“, erklärt Stephanie Kullmann. Damit konnte die DZD-Forscherin belegen, dass sich eine Insulinresistenz beeinflussen und möglicherweise umkehren lässt – wenn auch nicht bei allen Menschen im selben Ausmaß. „Bewegung hatte bei allen 21 Testpersonen eine positive Wirkung. Allerdings sprachen einige von ihnen besonders gut auf das Ausdauertraining an. Sie haben sichtlich abgenommen und ihr Bauchfett verringert. Bei diesen Personen hat sich auch die Insulinresistenz im Gehirn am stärksten zurückgebildet. Andere haben deutlich weniger stark abgenommen. Bei ihnen sehen wir entsprechend geringere positive Veränderungen im Gehirn – obwohl sie sich genauso sehr angestrengt hatten“, so das Fazit der Neurowissenschaftlerin.

Für fettleibige Menschen, die kaum von mehr Bewegung profitieren, könnten medikamentöse Therapien in Betracht kommen. Denn chemische Substanzen greifen an anderen Stellen im Gehirn an als körperliche Aktivitäten. So verbessert etwa Empagliflozin die Insulinwirkung im Hypothalamus – einer Hirnregion, die sehr sensibel auf Schwankungen des Blutzuckerspiegels reagiert und unser Gefühl für Hunger und Sättigung steuert. „Wir stehen noch ganz am Anfang, wenn es darum geht, diese komplexen Zusammenhänge zu verstehen“, betont Stephanie Kullmann: „Doch unsere Studien zeigen schon jetzt, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise auf Medikamente und Lebensstiländerungen ansprechen. Deshalb wollen wir nun nach Möglichkeiten suchen, wie wir diejenigen Personen identifizieren können, die entweder mehr von Bewegung oder stärker von Medikamenten profitieren. Denn erst dann können wir nach den Therapieformen suchen, die für die Betroffenen jeweils am meisten Erfolg versprechen.“ 
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