SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der DZG
„Multikulti” in unserem Darm: Hier tummeln sich Mikroorganismen ganz unterschiedlicher Arten und Formen.

Willkommen auf Planet Darm

Man stelle sich einen kleinen, verborgenen Planeten vor, der von mehr als 1.000 Nationen bewohnt wird. An die 100 Billionen Organismen leben hier zusammen – dicht gedrängt, doch in friedlicher Koexistenz. Sie alle haben einen Job, es gibt reichlich Nahrung und das Klima ist angenehm feucht-tropisch.
och manchmal läuft etwas aus dem Ruder – zum Beispiel, weil Lebensmittel für eine wichtige Gruppe nicht geliefert, Minderheiten dafür doppelt und dreifach bedient werden. Während die eine Gruppe nun verhungert und deshalb wichtige Aufgaben in Verarbeitung, Produktion – sowohl für den eigenen Bedarf als auch für den Export zu benachbarten Planeten – sowie Abfallverwertung liegen bleiben, futtern die anderen sich dick und rund. Sie vermehren sich über die Maßen, besiedeln freigewordene Territorien und erfüllen ihr Arbeitspensum über das Soll hinaus. Das schwächt die interplanetare Kommunikation und die engen Wirtschaftsbeziehungen empfindlich und innerhalb kurzer Zeit kann die gesamte Galaxis in Aufruhr geraten...

Ähnlich verhält es sich mit dem menschlichen Darmmikrobiom, in dem es von Pilzen, Viren, Archaeen, Phagen und vor allem Bakterien nur so wimmelt – letztere machen etwa 99 Prozent der Darmbewohner aus. Auslöser für einen Aufruhr, sprich: eine Krankheit, können unter anderem einseitige Ernährung, Stress oder Infektionen mit pathogenen Keimen sein. Stimmt etwas nicht mit dem „Multikulti“ im Darm, äußert sich das oft an anderer Stelle, denn das Mikrobiom reguliert zahlreiche Organe. „Für die wichtigsten – Darm, Leber, Lungen, Nieren, Harnwege, Herz-Kreislauf, Immunsystem und Haut – können wir die Einflüsse bereits belegen. Aber es könnte überall beteiligt sein“, sagt Professorin Maria Vehreschild, Leiterin der Mikrobiomforschung an der Uniklinik Köln.

Einflüsse auf viele andere Erkrankungen

Welche Krankheiten entstehen, wenn Multikulti aus der Balance gerät? „Wenn die Aufrechterhaltung der Gesundheit so stark vom Mikrobiom abhängt, muss es dann nicht eine Vielzahl von Krankheiten geben, die dadurch entstehen oder zumindest in ihrem Verlauf beeinflusst werden?“, fragt die Forscherin zurück. Über die Darm-Hirn-Achse gäbe es zum Beispiel Einflüsse auf Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, eventuell auch auf Depressionen. „Viele Kolleginnen und Kollegen beschäftigen sich mit Zusammenhängen mit Autoimmunerkrankungen sowie der Entstehung und Therapieresistenz von Krebs“, erläutert Vehreschild. „Am bekanntesten und bisher am besten untersucht ist das Zusammenspiel jedoch bei den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen sowie Infektionen mit Clostridioides difficile.“

Balance wiederherstellen

Diese Erkrankungen zu therapieren, indem man die Balance der gestörten Darm-Community durch „gezielte Einwanderung“ eines gesunden Mikrobioms wiederherstellt, ist naheliegend. In Köln werden Patientinnen und Patienten mit hartnäckigen C. difficile-Infektionen deshalb mit Stuhltransplantaten behandelt. Dazu wird der Stuhl junger, gesunder Spender vorab intensiv auf Pathogene untersucht, dann in Kochsalzlösung verdünnt und mehrfach filtriert, bis die Restlösung fast nur noch die Mikroben und deren Stoffwechselprodukte enthält. Dann wird diese Lösung zentrifugiert, in kleine Kapseln verpackt und bei minus 80 Grad Celsius eingefroren. Während einer Therapieeinheit werden über ein bis zwei Tage hinweg insgesamt 30 Kapseln eingenommen. Nebenwirkungen gäbe es kaum, wenn man bei der Herstellung ein hohes Sicherheitsniveau anlegt, sagt Maria Vehreschild, die diese Behandlung im Auftrag des DZIF weiterentwickelt.

Stuhlanalysen vor und nach der Therapie belegen, dass die Mikroorganismen sich tatsächlich in freien Nischen der schwer geschädigten Darmschleimhaut der Patientinnen und Patienten ansiedeln. Langfristig möchte Vehreschild jedoch weg von der Stuhlspende. Denn wenn erst einmal verstanden ist, welche Mikrobiota da tatsächlich wirken, könnte man diese auch direkt im Labor kultivieren und sie als therapeutisches Probiotikum einsetzen.
CROSSTALK ZWISCHEN MIKROBEN UND DARMWAND.
IM MENSCHLICHEN DARMMIKROBIOM WIMMELT ES NUR SO VON PILZEN, VIREN, ARCHAEEN, PHAGEN UND VOR ALLEM BAKTERIEN.

Gesundes Mikrobiom schützt sich selbst

„Funktioniert das Mikrobiom gut, kann es sich selbst vor pathogenen Keimen schützen. Doch leider weiß man bis heute nicht genau, was ein gesundes Mikrobiom eigentlich ausmacht. Es ist von Mensch zu Mensch verschieden zusammengesetzt“, erklärt Professorin Bärbel Stecher vom Max-von-Pettenkofer Institut der LMU München. Sicher sei nur, dass es deutliche Unterschiede zwischen dem Mikrobiom von Gesunden und Kranken gibt. Um die Interaktionen der einzelnen Mikroorganismen analysieren zu können, implantiert die Forscherin keimfrei aufgezogenen Mäusen eine „Modell-Community“ aus zwölf Bakterienstämmen. Dabei verfolgt sie auch, wie sich die Gemeinschaft über die Zeit genetisch verändert.
BEI SCHWEREN DURCHFALLERKRANKUNGEN MIT CLOSTRIDIOIDES DIFFICILE WIRD DIE ÜBERTRAGUNG VON GESUNDEM MIKROBIOM NACH DIESEM SCHEMA BEREITS MIT ERFOLG ANGEWENDET.
Stecher hat herausgefunden, dass das bekannte Darmbakterium Escherichia coli bei gesunden Mäusen Nischen besetzt, die auch von Pathogenen wie Salmonellen bevorzugt werden. „Um ins Darmgewebe eindringen, sich dort vermehren und Darmentzündungen auslösen zu können, müssen Salmonellen hohe Dichten erreichen“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Dazu brauchen sie Nährstoffe wie Zucker, aber auch Sauerstoff. Und das alles nimmt ihnen E. coli weg!“ Auch in einem anderen Fall konkurrieren „Gut“ und „Böse“ um die gleichen Ressourcen: Sind genügend E. coli im Darm, haben es Antibiotika-resistente Keime wie Klebsiellen schwer, dort Fuß zu fassen. In diesen Kampf muss nicht mit „schweren Geschützen“ eingegriffen werden – er lässt sich auch sanft unterstützen. „Ich würde versuchen, das harmloseste Bakterium dort therapeutisch anzusiedeln. Das könnte E. coli sein, um dessen Population zu vergrößern. In einem anderen Fall auch ein harmloser Klebsiella-Stamm.“

Komplexe Interaktionen der „Bewohner“

Unser Mikrobiom ist ständig im Wandel: durch Veränderung der Ernährungsgewohnheiten und den Transfer von Mikroorganismen via Körperkontakt mit anderen Menschen. Die Interaktionen zwischen gesundheitsfördernden und schädlichen „Bewohnern“, die, wenn sie die Oberhand gewinnen, Toxine ausschütten oder gar Krebs auslösen können, sind sehr komplex. „Das zu verstehen ist schon bei zwölf Spezies schwierig genug“, betont Stecher. Auch in vitro beobachten die Forschenden das Miteinander und analysieren die Metaboliten und Bakteriozine, die einzelne Organismen ausscheiden, um sich gegenseitig zu fördern – oder niederzumachen. „Vermutlich ist das der Hauptfaktor, über den sich eine komplexe Gemeinschaft gegenseitig beeinflusst.“

Professor Guntram Graßl von der Medizinischen Hochschule Hannover kann unter dem Mikroskop an menschlichen Darm-Organoiden live verfolgen, wie „die Guten“ – Kommensalen genannt – gegen „die Bösen“ – die Pathogenen – aufmarschieren. Er züchtet „Minidärme“ aus Darmepithelstammzellen, die aus Biopsie-Material von Patienten gewonnen werden. Innerhalb von wenigen Tagen wachsen daraus kugelförmige Gebilde von nur einem Millimeter Größe, die 4.000 bis 10.000 Zellen umfassen. Die „Minidärme“ werden mit pathogenen Bakterien mittels Injektion infiziert und die verschiedenen Zelltypen können mit Fluoreszenzfarbstoffen markiert werden. „Die Infektion aktiviert eine Immunantwort und wir sehen, welche Zytokinmuster – also Muster bestimmter Botenstoffe des Immunsystems – dabei ausgelöst werden.“ C. difficile schüttet Toxine aus, welche die Organoide binnen kurzer Zeit zerstören können. „Wir suchen schützende Kommensalen, die genau das verhindern können“, erklärt Graßl. Drei Bakteriengruppen, die das vermögen, konnte sein Team bereits identifizieren. Auch für Salmonellen wurde ein potenter Gegenspieler gefunden.

Versuche, durch prophylaktische Einnahme von „guten“ Bakterien die Gesundheit zu fördern und Krankheiten vorzubeugen, sind derzeit sehr en vogue. Während frei verkäufliche Probiotika keine Schlagkraft gegen schwere Infektionen haben, könnten in den nächsten Jahren Medikamente auf den Markt kommen, die mit einem fein austarierten Bakteriencocktail gefährlichen Pathogenen buchstäblich den Boden entziehen. Das wäre eine sanfte, aber hocheffiziente Methode, mit der Leben und Arbeitsabläufe auf dem „verborgenen Planeten“ wieder in Balance kommen.
IN DEN NÄCHSTEN JAHREN KÖNNTEN MEDIKAMENTE AUF DEN MARKT KOMMEN, DIE MIT EINEM FEIN AUSTARIERTEN BAKTERIENCOCKTAIL GEFÄHRLICHEN PATHOGENEN BUCHSTÄBLICH DEN BODEN ENTZIEHEN.
linkedin facebook pinterest youtube rss twitter instagram facebook-blank rss-blank linkedin-blank pinterest youtube twitter instagram