SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)

Das Risiko wächst mit

In Deutschland wachsen Kinder mit familiärer Hypercholesterinämie (FH) oft auf, ohne dass die Erbkrankheit erkannt wird. Dabei ist der Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Problemen gut erforscht. Ein flächendeckendes Screening ist noch nicht umgesetzt. Aber es gibt VRONI, ein bayerisches Modellprojekt.
Selma ist acht Jahre alt. Sie ist ein fröhliches Mädchen, das am liebsten draußen spielt und auf Bäume klettert. Man würde nicht vermuten, dass sie an einer potenziell lebensbedrohlichen genetischen Erkrankung leidet: der familiären Hypercholesterinämie. Selma hat zu viel Cholesterin im Blut, weil ihr LDL-Rezeptor nicht richtig funktioniert. Er sitzt auf der Oberfläche von Leberzellen und fängt Cholesterinpartikel aus dem Blut ein. Kann der Rezeptor seine Aufgabe nicht erfüllen, bleibt zu viel LDL-Cholesterin im Blut und erhöht das Risiko für Ablagerungen. Cholesterin, das in Form von Low Density Lipoprotein (LDL) verpackt ist, kann sich dann in den Wänden der Blutgefäße ablagern und Arteriosklerose fördern, die gefährliche Gefäßverengungen verursacht.

Bei gesunden Menschen entsorgt die Leber LDL-Cholesterin, nachdem es an den Rezeptor gebunden hat. Bei der familiären Hypercholesterinämie ist die Funktion des LDL-Rezeptors durch eine Genmutation gestört. Obwohl auch andere Gene eine Rolle spielen können, liegt in etwa 90 Prozent der Fälle eine Mutation im LDL-Rezeptor-Gen vor, welche die erhöhten Cholesterinwerte erklärt. Wie stark die LDL-Werte erhöht sind, hängt davon ab, ob das defekte Gen von einem oder beiden Elternteilen vererbt wurde. Homozygote Träger, die das defekte Gen von beiden Eltern geerbt haben, können LDL-Blutwerte von über 1.000 mg/dl aufweisen, weil der LDL-Rezeptor komplett ausfällt. Zum Vergleich: Gesunde Menschen haben normalerweise LDL-Werte von etwa 100 mg/dl. Heterozygote Träger, die nur ein defektes Gen besitzen, haben weniger deutlich erhöhte LDL-Werte, sind aber dennoch stark gefährdet, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln.
MAN WÜRDE NICHT VERMUTEN, DASS SIE AN EINER POTENZIELL LEBENSBEDROHLICHEN GENETISCHEN ERKRANKUNG LEIDET.

Herzinfarkt vor dem 50. Lebensjahr

Bei familiärer Hypercholesterinämie treten oft schon vor dem 50. Lebensjahr Herzinfarkte und andere Gefäßprobleme auf. Häufig trifft es junge Erwachsene scheinbar aus heiterem Himmel, denn die meisten Betroffenen wissen gar nicht, dass sie diesen Gendefekt in sich tragen. Oft wird die Fettstoffwechselstörung erst erkannt, wenn bereits ein schwerwiegendes Ereignis wie ein Herzinfarkt eingetreten ist. Doch selbst dann wird nicht immer die naheliegende Ursache, die familiäre Hypercholesterinämie, in Betracht gezogen. „Die Früherkennung muss dringend verbessert werden", fordert Dr. Veronika Sanin vom Deutschen Herzzentrum München. Sie setzt sich dafür ein, die in Deutschland vernachlässigte präventive Kardiologie voranzubringen. Sanin koordiniert das bayerische Modellprojekt VRONI, Abkürzung für: Vorsorge zur Früherkennung von familiärer Hypercholesterinämie. Es soll ein flächendeckendes FH-Screening in ganz Deutschland etablieren.

Die familiäre Hypercholesterinämie ist keineswegs selten. Mit einer Häufigkeit von 1:250 ist sie die am häufigsten vorkommende genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung. „Für seltene genetische Defekte wie die Phenylketonurie, die nur bei etwa 1 von 10.000 Menschen vorkommt, gibt es bereits etablierte Screeningprogramme. Doch die FH bleibt bei den meisten Betroffenen unentdeckt", kritisiert Dr. Sanin. Das kann sie nicht nachvollziehen und will es nicht akzeptieren.
WIE STARK DIE LDL-WERTE ERHÖHT SIND, HÄNGT DAVON AB, OB DAS DEFEKTE GEN VON EINEM ODER BEIDEN ELTERNTEILEN VERERBT WURDE.

Bayerisches Modellprojekt macht Schule

In Bayern wurden bisher mehr als 28.000 Kinder im Rahmen des VRONI-Modellprojekts untersucht. Zunächst wird beim Kinderarzt der LDL-Blutwert bestimmt. Zeigt sich ein auffälliger Befund, wird aus derselben Blutprobe ein Gentest durchgeführt. Auf diese Weise konnten 265 Kinder mit familiärer Hypercholesterinämie identifiziert werden. Dazu gehörte auch die damals sechsjährige Selma, deren Blutfettwerte dank einer medikamentösen Therapie inzwischen gut eingestellt sind.

Zur Behandlung der FH werden vor allem Statine eingesetzt. Sie senken erhöhte LDL-Werte wirksam und bringen sie oft in den Normalbereich. Die Einnahme muss jedoch ab der Diagnosestellung ein Leben lang konsequent erfolgen. Auch Kinder können mit Statinen behandelt werden und so eine weitgehend normale Lebensqualität erreichen, betont Veronika Sanin.

Das Modellprojekt VRONI hat inzwischen im Rahmen der Nationalen Herz-Allianz die Unterstützung kardiologischer Fachgesellschaften und der Deutschen Herzstiftung erhalten. Ein wichtiger Meilenstein für ein bundesweites FH-Screening wäre das sogenannte Gesundes-Herz-Gesetz gewesen, das 2025 in Kraft treten sollte. Es hätte die politischen Rahmenbedingungen für mehr Prävention in der Medizin geschaffen. Veronika Sanin und der wissenschaftliche Leiter von VRONI, Professor Heribert Schunkert, haben sich intensiv in Berlin dafür eingesetzt. Dann kam das „Ampel-Aus" und die Zukunft des Kabinettsbeschlusses ist nun ungewiss. Dennoch bleibt Hoffnung: „Die Botschaft ist inzwischen auch auf EU-Ebene angekommen", erklärt Heribert Schunkert. Deshalb könne man vorsichtig optimistisch sein, dass man nicht wieder ganz von vorne anfangen muss. Schunkert leitet die Klinik für Herz- und Kreislauferkrankungen am Deutschen Herzzentrum München und gehört zum DZHK-Standort München. Er ist ein ausgewiesener Experte für die Genetik des Herzinfarkts.
AUF DIESE WEISE KONNTEN 265 KINDER MIT FAMILIÄRER HYPERCHOLESTERINÄMIE IDENTIFIZIERT WERDEN.

Zusammenspiel vieler genetischer Faktoren

Die Grundlage für das FH-Screening schufen die amerikanischen Wissenschaftler Joseph Leonard Goldstein und Michael Stuart Brown. Sie entschlüsselten, wie der LDL-Abbau in der Leber funktioniert, erhielten dafür 1985 den Medizin-Nobelpreis. Sobald ein LDL-Lipoprotein an den Rezeptor andockt, wird es in die Leberzelle eingeschleust. Dort wird das Cholesterin freigesetzt und entsorgt, während der Rezeptor recycelt wird und zur Zelloberfläche zurückkehrt. Diese Erkenntnisse führten zu Statinen, die heute ein unverzichtbarer Bestandteil der Behandlung von Fettstoffwechselstörungen sind.

Nach der Jahrtausendwende ermöglichten neue Methoden zur Genomanalyse, das menschliche Erbgut gezielt nach Risikogenen zu durchsuchen. In sogenannten genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) untersuchten Forscher große Patientengruppen auf genetische Varianten, die mit Krankheiten zusammenhängen. Ein wichtiger Meilenstein war eine Studie aus dem Jahr 2007, die unter der Leitung von Heribert Schunkert den genetischen Hintergrund von koronarer Herzkrankheit und Herzinfarkt beleuchtete. Schunkerts Team führte danach ein globales Konsortium, das inzwischen Hunderte Gene identifiziert hat, die das kardiovaskuläre Risiko beeinflussen. Anders als bei der familiären Hypercholesterinämie, bei der ein einzelnes defektes Gen der Auslöser ist, ergibt sich das individuelle Herz-Kreislauf-Risiko bei den meisten Menschen aus dem Zusammenspiel vieler genetischer Faktoren. Dieses sogenannte polygene Risiko wird durch ungesunde Lebensgewohnheiten verstärkt.

Die Fakten liegen auf dem Tisch

Bei der familiären Hypercholesterinämie ist ein einzelnes Gen der entscheidende Faktor, der alles verändert. Dieses „Gamechanger"-Gen ist das LDL-Rezeptor-Gen, das auf dem kurzen Arm von Chromosom 19 liegt. Bis heute wurden fast 2.000 Mutationen dieses Gens identifiziert. Alle führen dazu, dass der LDL-Abbau in der Leber mehr oder weniger stark beeinträchtigt wird, was die LDL-Cholesterinwerte im Blut deutlich erhöht.

Im Gegensatz zu anderen kardiovaskulären Erkrankungen, die durch das Zusammenspiel vieler Gene (polygene Veranlagung) entstehen, ist bei FH eine medikamentöse Therapie unerlässlich. Verhaltensänderungen wie eine fettarme Ernährung reichen bei Weitem nicht aus, um den Rezeptordefekt auszugleichen. Die familiäre Hypercholesterinämie ist umfassend erforscht und bis ins Detail verstanden. Und es gibt eine effektive Präventionsmöglichkeit. Die wissenschaftlichen Fakten liegen schon lange auf dem Tisch – jetzt ist es Zeit, sie in die Praxis umzusetzen. Die Translation ist längst überfällig.
DIE NATIONALE HERZ-ALLIANZ: GEMEINSAM FÜR PRÄVENTION
Die Nationale Herz-Allianz (NHA) ist ein Zusammenschluss führender Institutionen und Organisationen im Bereich der Herz-Kreislauf-Forschung und Prävention in Deutschland. Ziel der Allianz ist es, die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Medizin und Gesundheitsversorgung zu stärken, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen effektiver vorzubeugen. Zu den Mitgliedern gehört auch das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK), das seine Expertise in der Forschung und Entwicklung innovativer Präventions- und Therapiekonzepte einbringt. Gemeinsam setzt sich die NHA für eine bessere Versorgung und frühzeitige Erkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein.
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