SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)

Der Feind im eigenen Körper

Eigentlich soll das Immunsystem gegen Krankheiten schützen. Manchmal aber wird es selbst zum Aggressor: Fehlgeleitete Antikörper greifen dann das Gehirn an und zerstören es. Seit wenigen Jahren gibt es Therapien gegen diese sogenannten autoimmunen Enzephalopathien.
Hinter drei Worten verbarg sich über Jahrzehnte hinweg ein scheinbar unlösbares Rätsel für die Neurologie: „Enzephalitis ohne Erregernachweis“ – das war lange Zeit die Diagnose bei vielen Menschen, die mit einer Hirnentzündung auf der Intensivstation lagen oder in die Psychiatrie eingewiesen werden mussten. Etwas griff ihr Gehirn an, aber es ließen sich keine Bakterien und keine Viren finden, die als Ursache in Frage gekommen wären. Erst vor wenigen Jahren konnten Forschende das Geheimnis aufdecken: Hinter den Symptomen stehen Antikörper aus dem Immunsystem, die irrtümlich den eigenen Körper attackieren.
ES GIBT ETLICHE AUSPRÄGUNGEN DER ENTZÜNDUNGEN. UND IM GRUNDE GENOMMEN RUFT JEDE VON IHNEN EINE NEUE, EIGENE ERKRANKUNG HERVOR.

Vom Beschützer zum Angreifer

„Die Antikörper sollen eigentlich an ganz anderer Stelle angreifen“, sagt Harald Prüß, der am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) auf autoimmune Enzephalopathien spezialisiert ist – also auf Hirnentzündungen, die durch fehlgeleitete Antikörper entstehen. „Wenn ein Patient beispielsweise Krebs hat, bilden sich Antikörper, die teilweise sehr effizient den Tumor bekämpfen. Sie docken dafür an bestimmte Eiweiße auf der Oberfläche der Tumorzellen an und zerstören sie dann.“ Das Problem dabei: Einige Krebsarten bilden an ihrer Oberfläche solche Eiweiße, die sonst nur im Gehirn vorkommen. Die Antikörper zerstören deshalb nicht nur die Krebszellen, sondern auch das gesunde Gehirn. Das eigene Immunsystem wird vom Beschützer zum hochaggressiven Feind.

Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von den autoimmunen Enzephalopathien im Plural sprechen hat seinen Grund: Es gibt etliche Ausprägungen der Entzündungen. Ihr vordergründiger Unterschied liegt an den konkreten Strukturen, gegen die sich die außer Kontrolle geratenen Antikörper richten: Am häufigsten betroffen sind die sogenannten NMDA- Rezeptoren im menschlichen Gehirn; manchmal geht es gegen andere Moleküle, gegen Ionen-Kanäle oder weitere Zielpunkte im Gehirn. „15 konkrete Antikörper sind inzwischen gut untersucht, weitere 15 bis 25 stehen als verdächtig unter Beobachtung“, sagt Harald Prüß. „Und im Grunde genommen ruft jeder von ihnen eine neue, eine eigene Erkrankung hervor.“ Die Wirkungsmechanismen sind jeweils ähnlich, die Symptome aber völlig unterschiedlich – und auch die Betroffenengruppen: Eine häufige Enzephalitis wird durch sogenannte LGI1-Antikörper hervorgerufen und betrifft vor allem Männer ab Mitte 50. Und die NMDA-Rezeptor-Variante schlägt häufig bei jüngeren Frauen und Kindern zu.

Blut-Hirn-Schranke versagt

Diese NMDA-Rezeptor-Variante ist jene Enzephalitis, über die die Wissenschaft vor etwas mehr als einem Jahrzehnt dem unbekannten Phänomen auf die Spur gekommen ist. Ein Krebsarzt wunderte sich darüber, dass viele seiner Patientinnen gleich doppelt betroffen sind: Erst erkrankten sie an Eierstock-Tumoren – und bald darauf entzündete sich bei einem Drittel von ihnen das Gehirn. Er fand daraufhin den Antikörper, der sowohl die Tumor- als auch die Gehirnzellen angriff. Nach und nach konnten die Forscher dann die Rätsel der autoimmunen Enzephalopathien aufdecken. Sie stellten fest: Nicht nur Krebspatienten sind betroffen, sondern am weitaus häufigsten schlägt die Krankheit aus scheinbar völlig heiterem Himmel zu. Die potenziell gefährlichen Antikörper gibt es offenbar im Blut vieler Menschen – meistens aber funktioniert die sogenannte Blut-Hirn-Schranke. Sie verhindert, dass Substanzen aus dem Blut ins Gehirn gelangen, die dort Schaden anrichten können. Bei einigen Menschen aber versagt diese natürliche Barriere unerklärlicherweise.

Eine Enzephalitis ist für die betroffenen Personen eine verheerende Diagnose: Wer einen schweren Verlauf hatte, landete in der Vergangenheit auf der Intensivstation und musste oft künstlich beatmet werden – mit nur geringer Chance auf eine Verbesserung, denn das Gehirn war oft irreversibel geschädigt. Manchmal führten die Entzündungen zu psychiatrischen Veränderungen; die Patienten wurden wegen der Störungen mit vermeintlicher Schizophrenie oder anderen Psychosen in die Psychiatrie eingewiesen. „Dabei wissen wir heute, dass diese Erkrankungen behandelbar sind, wenn sie durch eigene Antikörper ausgelöst werden“, sagt DZNE-Experte Harald Prüß, der auch als Oberarzt an der Berliner Charité arbeitet. Oft etwa wird das Blut gewaschen, um die fehlgeleiteten Antikörper daraus zu entfernen; in anderen Fällen greifen die Ärzte zu einer Immuntherapie. Dabei wird das gesamte Immunsystem künstlich heruntergefahren – eine Therapie mit vielen Risiken, aber auch großen Chancen. „Ich hatte zum Beispiel eine Patientin, die in jungem Alter betroffen war. Ein Jahr lang lag sie auf der Intensivstation“, sagt Harald Prüß. „Aber die Therapie schlug an, sie hat danach ein Studium abgeschlossen und führt heute ein weitgehend normales Leben.“

Therapie soll bestimmte Zellen ausschalten

Harald Prüß schwebt nun eine neue Therapie vor, mit der nur jene Zellen im menschlichen Körper ausgeschaltet werden, die die fehlgeleiteten Antikörper herstellen, und nicht mehr das gesamte Immunsystem. Erste Fortschritte gibt es bereits: Nicht zuletzt dank eines Projekts der Helmholtz-Gemeinschaft, das BaoBab heißt („Brain antibody-omics and B-cell Lab“), können die Forscherinnen und Forscher gewissermaßen den Bauplan der aggressiven Antikörper auslesen. Damit lässt sich auch ermitteln, wie sich der Angriff auf den eigenen Körper stoppen lässt.
DIE WIRKUNGSMECHANISMEN SIND JEWEILS ÄHNLICH, DIE SYMPTOME ABER VÖLLIG UNTERSCHIEDLICH.
Je tiefer Harald Prüß und sein Team in die Geheimnisse der autoimmunen Enzephalopathien eintauchen, desto mehr Zusammenhänge entdecken sie. So fanden sie zum Beispiel Hinweise darauf, dass sie sogar in der Schwangerschaft übertragen werden können: Antikörper der werdenden Mutter docken dann am Gehirn des Embryos an und nehmen es unter Beschuss. Das kann mutmaßlich zu neurobiologischen Entwicklungsstörungen oder psychiatrischen Erkrankungen führen – von Autismus bis hin zu ADHS. „Die Embryos sind offenbar nicht geschützt, während die Autoantikörper bei der Mutter selbst an der Blut-Hirn-Schranke scheitern“, erläutert Harald Prüß. Noch geht es hier um einen Verdacht. „Falls künftige Forschungsergebnisse unsere These jedoch bekräftigen, sollten Tests nach solchen Antikörpern in die Schwangerenvorsorge aufgenommen werden. Man könnte dann gegebenenfalls eine Behandlung zur Entfernung der Autoantikörper einleiten, um Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes zu verhindern.“

Diagnose für Eisbär Knut

In Deutschland erkranken nach Schätzungen von Experten unter einer Millionen Menschen jährlich 8 bis 15 an einer autoimmunen Enzephalitis. Heute werden diese Krankheiten in aller Regel rechtzeitig erkannt: Mit normalen Tests des Blutes oder Nervenwassers (Liquor) lassen sie sich feststellen. Während noch vor zehn Jahren nur ausgewiesene Expertinnen und Experten überhaupt von der Existenz dieses Krankheitsbildes wussten, gehört die Abklärung heute bei vielen neurologischen Beschwerden zum Standard-Repertoire. Die berüchtigten drei Worte von der „Enzephalitis ohne Erregernachweis“ hat Harald Prüß jedenfalls schon lange nicht mehr gelesen. Nur vor ein paar Jahren sah er die Formulierung noch einmal: in einem Zeitungsartikel, der sich mit dem Tod des Berliner Eisbären Knut beschäftigte.
AUCH KNUT, DER EISBÄR AUS DEM BERLINER ZOO STARB INFOLGE EINER AUTOIMMUNEN GEHIRNENTZÜNDUNG.
Der Publikumsliebling des Berliner Zoos war damals bei einem epileptischen Anfall in einen Wassergraben gestürzt und ertrunken. Sein Tod löste große öffentliche Anteilnahme aus – und stellte die Tierärzte vor ein Rätsel: Wie konnte es sein, dass der bis dahin gesunde Bär plötzlich aus der Bahn geriet? „Sie untersuchten und obduzierten ihn und als ich in einem Zeitungsartikel den abschließenden Befund von der ‚Enzephalitis ohne Erregernachweis‘ las, klingelten bei mir gleich die Alarmglocken“, erinnert sich Harald Prüß. Er setzte sich mit den Tiermedizinern in Verbindung, gemeinsam rollten sie den Fall noch einmal auf und analysierten Blut- und Liquorproben. Bald konnten sie feststellen: Er ist tatsächlich einer autoimmunen Gehirnentzündung zum Opfer gefallen, der Eisbär Knut – und wurde damit zum wohl prominentesten und hoffentlich auch einem der letzten unbehandelten Opfer.
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