Der entschlüsselte Tumor
Text: Dr. Christian Wolf
Die Ursachen von Krebs liegen meistens im Erbgut verborgen.
In seinem Krebsgenomprojekt bietet das Deutsche Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK) Tumorsequenzierungen für Patienten mit bestimmten Erkrankungen an.
Doch was genau lässt sich aus einem Krebsgenom herauslesen?
Die Lage schien aussichtslos: Der 57-jährige Mann litt unter einem Chordom, einem seltenen Knochentumor der Wirbelsäule. Fünfeinhalb Jahre nach der ersten Diagnose und einer Bestrahlung begann der Tumor wieder zu wachsen. Nun sprach er weder auf eine erneute Strahlentherapie noch auf Medikamente an – kehrt Krebs zurück, ist er häufig resistent gegenüber den Standardtherapien geworden.
Neue Therapien, die sich ganz gezielt gegen den krebsauslösenden genetischen Defekt richten, könnten helfen. Sie erfordern aber eine genaue Erbgutanalyse. Stefan Fröhling, geschäftsführender Direktor des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, ist einer der führenden Experten des DKTK und des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) auf diesem Gebiet.
Zu seinem Team gehören molekulare Profiler, die in den Buchstaben der Tumor-DNA krebsspezifische Fehler finden. Diese Fehler können vererbt sein. Oft entstehen sie allerdings im Lauf des Lebens – entweder zufällig bei fehlerhaften Zellteilungen oder durch erbgutschädigende Faktoren wie UV-Licht oder Zigarettenrauch.
Die Profiler auf der Suche nach der Nadel im Heuhaufen
Bei dem Chordom-Patienten entdeckten die Wissenschaftler bei der Sequenzierung des Knochentumors einen vergleichsweise häufigen genetischen Defekt. Er sorgt dafür, dass Fehler in der DNA, die beispielsweise während der Zellteilung entstehen, nicht repariert werden können und sich krebstreibende Mutationen anhäufen.
TEILWEISE ERMÖGLICHT DIE GENOMANALYSE
ÜBERHAUPT ERST EINE DIAGNOSE
Bei Defekten in der DNA-Reparatur hatten sich bei anderen Krebserkrankungen sogenannte PARP-Hemmer bewährt: Sie blockieren die ohnehin fehlerhafte DNA-Reparatur der Tumorzellen. Bei einer Chemotherapie häufen diese so viele Mutationen an, dass sie absterben. Die Forscher wagten daher einen Versuch mit dem PARP-Hemmer Olaparib, der besonders bei Brust-, Eierstock- und Prostatakrebs gute Erfolge gezeigt hat. Tatsächlich führte die Behandlung zu einer klinischen Verbesserung und einem Stillstand des Tumorwachstums für immerhin zehn Monate. „Das ist ein Erfolg, denn es handelt sich um Höchstrisikopatienten, die oft keine oder nur noch sehr wenige Behandlungsoptionen haben", betont Fröhling.
So umfänglich diese Analysen und Auswertungen sind, so aufwendig sind sie auch. Die Forscher fokussieren sich in dem Programm daher bisher auf Patienten mit seltenen Krebserkrankungen, die nicht über 50 Jahre alt sind und mit einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung kämpfen. „Bei jüngeren Patienten sind die Tumore genetisch gesehen etwas weniger komplex – sie weisen oft weniger Mutationen auf. Wir gehen deshalb davon aus, dass die Chancen hier höher sind, Defekte zu finden, die den Patienten helfen können." Unabhängig vom Lebensalter legt das MASTER-Programm den Schwerpunkt auf seltene Tumorerkrankungen, bei denen es häufig keine fest etablierten Behandlungsstandards gibt.
Patienten eine zweite Chance geben
In einer Videokonferenz mit Experten der DKTK-Standorte – dem molekularen Tumorboard – werden alle Befunde des Programms unter klinischen Gesichtspunkten diskutiert. „Diese fächerübergreifende Zusammenarbeit ist von großem Vorteil", so Fröhling. „Allein bei Lungenkrebs gibt es mehr als ein Dutzend Untergruppen mit einem eigenen molekularen Profil. Außerdem ermöglicht uns die Zusammenarbeit, auch bei seltenen Tumorerkrankungen aussagekräftige Patientengruppen zusammenzuführen und belastbare Erkenntnisse zu gewinnen."
Bislang haben rund 2.000 Patienten das Programm durchlaufen. In rund fünf bis acht Prozent der Fälle konnte die bisherige Diagnose aufgrund der Erbgutanalyse präzisiert werden und die Mediziner konnten konkreter bestimmen, um welche Tumorunterart es sich handelt. Teilweise ermöglicht es die Genomanalyse auch erst, eine Diagnose zu stellen, etwa bei Krebserkrankungen mit unbekanntem Ursprungstumor.
So nahm eine 45-jährige Frau am MASTER-Programm teil, in deren Metastasen die Wissenschaftler eine seltene Verschmelzung zweier Gene fanden – charakteristisch für eine bestimmte Art von Speicheldrüsentumoren. Die Erkrankung konnte besser charakterisiert und die Behandlung darauf abgestimmt werden.
Entwicklung neuer Therapien
Die Fortschritte beim molekularen Tumor-Profiling gehen auch Hand in Hand mit der Entwicklung neuer, zielgerichteter Therapien. „Durch die Analyse der Erbgutdefekte können wir in 70 bis 80 Prozent der Fälle Medikamente empfehlen, für die es bei anderen Erkankungen bereits eine Zulassung gibt oder die in klinischen Studien geprüft werden. Die Patienten erhalten durch die neue Therapie oder die Teilnahme an der Studie eine zweite Chance", sagt Fröhling.
Aufgrund des vergleichsweise hohen Aufwands und der erforderlichen Infrastruktur können Patienten eine komplette Krebsgenomanalyse derzeit nur in Programmen wie MASTER durchführen lassen. Fröhling ist überzeugt, dass sich das ändern wird: „Die vielen Vorzüge dieser Diagnostik sprechen dafür, dass Tumorsequenzierungen in nicht allzu ferner Zukunft Eingang in die Klinik finden, um Krebspatienten individueller zu behandeln."