Er ist ein Visionär, ich bin ein Macher
Text: Claudia Doyle
Bei dem Versuch, das Universum zu verstehen, ist Gundram Jung vor mehr als 40 Jahren vom Weg abgekommen: Um sein Physikstudium zu finanzieren, arbeitete er mit Anfang 20 während der Semesterferien in einem Krankenhaus. Nachtwache, Blutdruck messen, Hilfsarbeiten ausführen. „Ich habe so viele Krebspatienten gesehen und dachte, dass man doch mit Hilfe der Wissenschaft etwas gegen diese Krankheit tun müsste", erinnert er sich.
Besonders fasziniert war er davon, dass das eigene Immunsystem nicht nur Krankheitserreger, sondern auch Krebszellen erkennen kann. So hatte der Nebenjob Folgen: Nach dem Physikdiplom entschied sich Jung noch um und schrieb sich für Medizin ein. Und die Idee, das Immunsystem auf Krebszellen anzusetzen, hat ihn bis heute nicht losgelassen.
Heute leitet Jung die Sektion für Experimentelle Antikörpertherapie an der Universität Tübingen und forscht gemeinsam mit Helmut Salih, DKTK – Professor und Ärztlicher Direktor der Klinischen Kooperationseinheit Translationale Immunologie am Universitätsklinikum Tübingen, an Antikörpern für die Krebstherapie.
Die beiden kennen sich seit 1997. Damals leitete Gundram Jung eine eigene Arbeitsgruppe an der Universität München, die sich mit therapeutischen Antikörpern zur Behandlung von Tumoren beschäftigte. Dort traf er als Stationsarzt auf den frisch approbierten Arzt Helmut Salih – seitdem sind die Lebenswege der beiden Immuntherapeuten untrennbar miteinander verbunden.
„Er ist ein Visionär, ich bin ein Macher", umreißt Salih die Zusammenarbeit. Lange wurden sie mit ihrer Arbeit nicht ernst genommen und viele ihrer Anträge auf Fördermittel wurden abgelehnt, mit der Begründung, die Immuntherapie habe keine Aussicht auf Erfolg. Jetzt zahlt sich ihr Durchhaltevermögen aus.
UM DAS UNIVERSIUM
ZU VERSTEHEN, STUDIERTE
GUNDRAM JUNG PHYSIK.
EIN NEBENJOB BRACHTE IHN
JEDOCH ZUR MEDIZIN UND
ZUR ERFORSCHUNG VON ANTIKÖRPERN
GEGEN KREBS.
Die Idee keimte in den 1980er-Jahren auf
Rund eine halbe Million Menschen in Deutschland werden Schätzungen zufolge allein im Jahr 2020 die Diagnose Krebs erhalten. Irgendwo in ihrem Körper haben Zellen damit begonnen, sich unkontrolliert zu teilen. Die klassischen Behandlungsmethoden lauten noch immer: Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie. Doch auch das körpereigene Immunsystem kann Krebszellen bekämpfen.
Man muss ihm nur den Weg weisen. Bereits zu Beginn der 1980er-Jahre hatten Wissenschaftler die Idee, mit damals neu entwickelten monoklonalen Antikörpern das körpereigene Abwehrsystem in den Kampf gegen die Krankheit einzubeziehen. Denn Krebszellen unterscheiden sich von normalen Körperzellen. Proteine auf ihrer Oberfläche ermöglichen so zum Beispiel, dass solche Antikörper an Tumorzellen binden.
Die Tübinger Kollegen koppelten diese Antikörper im Labor mit einem zweiten, T-Zell stimulierenden Antikörper oder einem Zytokin-Protein. Dadurch werden die T-Zellen bzw. die sogenannten natürlichen Killerzellen des Immunsystems besonders nachhaltig aktiviert und zerstören die Tumorzellen. Solche Antikörperkonstrukte werden gegenwärtig für die Behandlung einiger, ausgewählter Krebsarten evaluiert.
Neue Immunzytokine mit Sicherheitsschloss
Leider kommt es bei den bisherigen Ansätzen jedoch zu starken Nebenwirkungen, denn das Immunsystem wird nicht nur lokal am Ort des Tumors stimuliert, sondern im gesamten Körper. „Die Patienten sind teilweise schwer krank, haben hohes Fieber und der Kreislauf kann zusammenbrechen", beschreibt Helmut Salih. Mediziner bezeichnen den Effekt auch als Zytokin-Sturm. Um ihn zu vermeiden, können Immunzytokine oft nicht in ausreichend hohen Dosen verabreicht werden – und dann bleibt auch ihre Wirkung schwach.
Salih und Jung ist es jedoch gelungen, Immunzytokine zu entwickeln, die mit einer Art Sicherheitsschloss arbeiten. Erst wenn der Antikörper an die Krebszelle bindet, wird das Zytokin aktiv und ruft die Killerzellen des Immunsystems auf den Plan. „Selbst bei hohen Dosen sehen wir sehr wenig unerwünschte Aktivierung des Immunsystems", erklärt Salih. Die starken Nebenwirkungen bleiben aus und dank dieses Sicherheitsschlosses lässt sich die Dosis und damit die heilende Wirkung bis um das Tausendfache steigern.
Akademische Medikamenten-Entwicklung bleibt schwierig
An Zellkulturen und Mäusen haben die Wissenschaftler ihre bispezifischen Antikörper und Immunzytokine bereits gegen Leukämien, Lymphome und verschiede solide Tumore getestet. Die Produktion von Immunzytokinen erfolgt heute in klinischer Qualität, was aufwendig und teuer ist.
Die Mediziner arbeiten daher für eine klinische Studie zusammen mit der Industrie. Der Mediziner Emil von Behring hatte damals Ende des 19. Jahrhunderts ganz andere Voraussetzungen. Er entwickelte eine passive Schutzimpfung, auch bekannt als Blutserumtherapie, selbst – bis hin zur Anwendung am Patienten.
DIE FORSCHER HABEN
IMMUNZYTOKINE ENTWICKELT,
DIE BISHERIGE NEBENWIRKUNGEN
DRASTISCH SENKEN: „SELBST
BEI HOHEN DOSEN SEHEN WIR
WENIG UNERWÜNSCHTE AKTIVIERUNG
DES IMMUNSYSTEMS",
ERKLÄRT HELMUT SALIH.
Anforderungen an Herstellungspraxis gestiegen
Grundlagenforschung und die präklinische Entwicklung von neuen Wirkstoffen werden häufig durch öffentliche Gelder finanziert. Sowohl die Produktion dieser Wirkstoffe in ausreichender Qualität wie auch ihre klinische Erprobung übernehmen jedoch danach meist Pharmafirmen.
ANTIKÖRPER GEGEN PROSTATAKREBS
Die Anforderungen an die sogenannte Herstellungspraxis, bekannt unter dem englischen Akronym GMP (Good Manufacturing Practice), sind in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Während des gesamten Herstellungsprozesses müssen aufwendige Tests durchgeführt werden. „Früher wurden Antikörper im eigenen Labor hergestellt, heute übernehmen externe Firmen alle Produktionsschritte gemäß der bestehenden Vorschriften", berichtet Salih.
Mit Antikörpern gegen Prostatakrebs
Eine absolute Ausnahme stellt eine klinische Studie dar, die unter seiner Leitung im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK) durchgeführt wird. Seit November 2019 werden dabei zunächst am Universitätsklinikum Tübingen bispezifische Antikörper für die Bekämpfung von Prostatakrebs erprobt.
Die bispezifischen Antikörper haben ihren Namen daher, dass sie mit ihren beiden Armen zwei unterschiedliche Proteine gleichzeitig binden können. Mit dem einen haften sie an einem Antigen auf der Tumorzelle fest. Mit dem anderen stimulieren sie ein Protein, das für die Aktivierung von Abwehrzellen zuständig ist. So werden die T-Zellen zum Tumor gerufen und beginnen damit, ihn zu zerstören.
Bispezifische Antikörper
Mit ihren beiden Armen können bispezifische Antikörper zwei unterschiedliche Proteine gleichzeitig binden. Einer haftet an einem Antigen auf der Tumorzelle an, der andere stimuliert ein Protein, das Abwehrzellen aktiviert.
„Wir sind wirklich stolz, dass wir diese Studie ausschließlich mit öffentlichen Fördermitteln durchführen können", sagt Salih. Jung und er haben dafür über das DKFZ 2,6 Millionen Euro Fördermittel aus dem Helmholtz-Validierungsfonds zur Verfügung und konnten die Antikörper dadurch mit einer Produktionsfirma herstellen.
„Wenn es diesen Fonds nicht gäbe, wäre eine Herstellung gemäß der geltenden GMP-Vorschriften ohne die Industrie nicht möglich gewesen", berichtet Salih. Zusätzliche Mittel, um Patienten mit dem Antikörper in einer klinischen Studie behandeln zu können, stellt das DKTK bereit.
SALIH UND JUNG FREUEN SICH ÜBER DIE
AKTUELLEN ERFOLGE DER IMMUNTHERAPIE:
„ES IST FÜR UNS JETZT DIE TOLLSTE ZEIT.
WIR HABEN IMMER GEHOFFT, DASS ES
EINES TAGES SO KOMMEN WÜRDE."
In ersten klinischen Studien geht es üblicherweise darum, die Sicherheit eines Medikaments zu prüfen und die wirksame Dosis zu ermitteln. „Das bedeutet normalerweise, dass zumindest die ersten Patienten eine so niedrige Dosis erhalten, dass sie davon kaum profitieren können, insbesondere im Falle von Immuntherapeutika", erklärt Helmut Salih. „Wie soll ich in so einem Falle Patienten dazu motivieren, mitzumachen?"
Deshalb verfolgen er und Gundram Jung mit biomathematischer Unterstützung durch Prof. Richard Schlenk vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg auch hier einen neuartigen Ansatz, bei dem bereits die ersten Patienten mit einer potenziell wirksamen Dosis behandelt werden können.
Nach Etablierung der optimalen Dosis sollen im nächsten Schritt Patienten aus dem gesamten DKTK für die Studie rekrutiert werden. „Dieser Verbund aus starken Partnern und die Zusammenarbeit im Konsortium ermöglichen, geeignete Patienten für die Studie zu finden und die Studie schneller durchführen zu können", betont Salih die Vorzüge des Netzwerks.
Nachdem sie selbst lange für das Konzept, das eigene Immunsystem gegen Krebs einzusetzen, gekämpft haben, freuen sich Gundram Jung und Helmut Salih über die aktuellen Erfolge der Immuntherapie: „Es ist für uns jetzt die tollste Zeit. Wir haben immer gehofft, dass es eines Tages so kommen würde." Und beide wünschen sich, dass sie in Zukunft noch öfter ein neues Medikament von der ersten Idee bis zur klinischen Studie am Patienten begleiten können.