Zuerst bleiben Blutplättchen über das GPVI an der Läsion hängen. Hat ein Blutplättchen gebunden, löst das einen Dominoeffekt aus: Immer mehr Blutplättchen lagern sich an, sodass letztlich ein Blutgerinnsel entsteht – ein Pfropf, der die Wunde verschließt und die Blutung stoppt. Wenn man sich geschnitten hat, ist man froh, wenn ein Grind die Verletzung abdichtet. Ein Blutgerinnsel birgt jedoch folgendes Risiko: Wenn es sich löst, wird es mit dem Blutstrom fortgeschwemmt, kann wichtige Gefäße blockieren und einen Herzinfarkt oder Schlaganfall verursachen.
Riskante Nebenwirkungen
Gerade diese Erkrankungen sollen jedoch durch eine Herzkatheter-OP verhindert werden, bei der Blutbahnen, die von krankhaften Ablagerungen – sogenannten Plaques – verengt sind, behandelt werden. Der Eingriff rettet Leben und gleichzeitig kann es passieren, dass er lebensbedrohliche Komplikationen auslöst: Die Ablagerungen können dabei aufreißen und die Innenseite der Gefäßwand beschädigen – dann bildet sich dort ein Blutgerinnsel. Die Patienten erhalten deshalb Medikamente, die die Blutplättchen daran hindern zu verklumpen. Weil diese aber im ganzen Körper wirken, ist das Risiko für mitunter tödliche Blutungen bis zu siebenmal höher.
HAT EIN BLUTPLÄTTCHEN GEBUNDEN,
LÖST DAS EINEN DOMINOEFFEKT AUS.
Ein molekularer Glücksgriff
Bereits Anfang der 2000er-Jahre begannen Wissenschaftler der Technischen Universität (TU) München und der Ludwig Maximilians Universität München (LMU) deshalb, an einer anderen Strategie zu arbeiten: Sie wollten nur an der verletzten Stelle ansetzen, ohne alle Plättchen zu hemmen und damit die gesamte Blutgerinnung zu beeinträchtigen. „Und mit dem Glykoprotein 6, das nur an Kollagen bindet, hatten wir dafür einen Hebel", erklärt Massberg.
In den hierauf folgenden Versuchen entpuppte sich GPVI als Traumbesetzung für die neue blutverdünnende Strategie: Wenn die Wissenschaftler das GPVI auf den Blutplättchen von Mäusen blockierten, verhinderte das die gefährlichen Blutgerinnsel durch eingerissene Plaques.
„Die Blutstillung im restlichen Körper klappte aber noch wesentlich besser, als wenn andere Komponenten des Gerinnungssystems blockiert sind", erzählt Massberg. Dass sie überhaupt noch funktioniert, liegt daran, dass das Blutgerinnungssystem über verschiedene Wege aktiviert werden kann. Und GPVI spielt glücklicherweise ausgerechnet bei der gefährlichen Gerinnselbildung durch aufgerissene Plaques eine zentrale Rolle.
Pseudo-Plättchen als Schlüssel zum Erfolg
„Trotz dieser tollen Ergebnisse mit dem GPVI-Blocker hatten wir weiterhin im Kopf, dass wir nicht alle Plättchen hemmen, sondern noch gezielter nur an der verletzten Stelle ansetzen wollten. Deshalb haben wir überlegt, wie wir das ins Blut ragende Kollagen abschirmen können", so Massberg. Die entscheidende Idee war ein lösliches GPVI, das ohne ein daran gebundenes Plättchen frei im Blut umherschwirrt. Massberg baute dafür 2003 ein Molekül, das sich aus zwei Glykoprotein-VI-Bausteinen, einem Verbindungsstück und dem sogenannten konstanten Teil des menschlichen Antikörpers Immunglobulin G (IgG) zusammensetzt – Revacept war geboren.
Wie ein Pflaster lagert es sich an die verletzte Stelle, indem es die Bindungsstellen am Kollagen besetzt und die Blutplättchen so quasi austrickst. In ersten Experimenten zeigte sich, dass Revacept die Blutgerinnsel sehr gut verhindert und der Effekt auf die restliche Blutgerinnung sogar noch geringer ist, als wenn die Forscher GPVI blockierten. Die Biotechfirma advanceCOR, eine Ausgründung der TU München, trieb die Entwicklung des neuartigen Blutverdünners schließlich weiter voran. Der entscheidende Sprung vom Labor zum Menschen gelang 2011. In einer ersten Studie bei gesunden Probanden konnten die Wissenschaftler belegen, dass Revacept sicher und gut verträglich ist.
Erster Einsatz im OP
Unter der Leitung von Professor Adnan Kastrati vom Deutschen Herzzentrum München und Massberg überprüfen die Forscher in der DZHK-Studie Revacept-PCI in CAD nun erstmals, wie wirksam Revacept bei Patienten ist, deren verengte Herzkranzgefäße mit einem Katheter geweitet werden müssen. Revacept wird in dieser Studie zusätzlich zu den beiden Plättchenhemmern Clopidogrel und Aspirin unmittelbar vor dem Kathetereingriff verabreicht. Neben dem erhöhten Blutungsrisiko haben die momentan verabreichten Blutplättchenhemmer nämlich noch ein weiteres Problem: Immer noch erleiden Patienten während des Kathetereingriffs einen Herzinfarkt.