Was haben ein spannendes Fußballspiel und zu viel Cholesterin gemeinsam? Beide bedeuten Stress für die Blutgefäße – und dadurch werden Entzündungszellen angelockt. So beobachteten Ärzte während der Fußballweltmeisterschaft 2006 dreimal mehr kardiovaskuläre Ereignisse, wenn die deutsche Mannschaft spielte. Aber was genau schädigt die Gefäße? Mit dieser Frage beschäftigt sich Hendrik Sager am Standort München des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK).
ENTZÜNDUNGEN SPIELEN EINE ZENTRALE ROLLE BEI ATHEROSKLEROSE.
Will man genauer verstehen, woran Sager forscht, muss man sich gedanklich in ein Blutgefäß zoomen: Dessen innerste Schicht ist mit Endothelzellen ausgekleidet. Diese werden durch zu viel Cholesterin und Zucker im Blut und durch hohen Blutdruck aktiviert. Die Endothelzellen bilden dann spezielle Moleküle aus, an denen Entzündungszellen hängenbleiben: Monozyten und neutrophile Granulozyten, die zum angeborenen Immunsystem gehören. Die hängengebliebenen Zellen schlüpfen durch die Gefäßwand und lösen in tieferen Schichten eine Entzündung aus. Ein Teil von ihnen wandelt sich dort in Fresszellen, die Makrophagen, um und nimmt Cholesterin auf, das ebenfalls in die Gefäßwand eingedrungen ist. „Vollgefressen“ lagern sich die Zellen zusammen. So entstehen Ablagerungen: die Plaques. Neben Fresszellen enthalten die Plaques, die man auch als Gefäßverkalkung bezeichnet, noch Bindegewebsmaterial, Fett und Gefäßmuskelzellen.
Die eingewanderten Makrophagen und neutrophilen Granulozyten produzieren außerdem Botenstoffe, die eine Entzündung in den tiefen Schichten der Blutgefäßwand aufrechterhalten und verstärken, indem sie die Endothelzellen weiter aktivieren, sodass immer mehr Entzündungszellen einströmen – ein Teufelskreis. Besonders gefährlich wird es, wenn eine Plaque aufbricht. Dann bilden sich Blutgerinnsel, welche die ohnehin schon schmalere Stelle weiter einengen oder komplett verschließen. Je nachdem, wo das passiert, kann es zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall kommen.
Sager und seine Arbeitsgruppe beschäftigen sich mit den Entzündungsprozessen bei einer Atherosklerose und konzentrieren sich auf die Rolle des angeborenen Immunsystems. „Die Rolle der Entzündung bei der Atherosklerose ist wissenschaftlich gut belegt“, sagt der Mediziner. „Das seit vielen Jahren bestehende Problem ist, dass dieses Wissen noch nicht effektiv für die Behandlung genutzt werden kann.“
Entzündungen sind eine wichtige Abwehrreaktion des Körpers. Er bekämpft damit schädliche Reize, wie etwa bakterielle Infektionen, aber auch geschädigtes Gewebe – zum Beispiel nach einem Herzinfarkt. Das Entzündungsgebiet wird stärker durchblutet und die Gefäße werden durchlässiger für Immunzellen. Das ist nützlich, wenn es etwa darum geht, Bakterien loszuwerden. Es kann aber auch Schaden anrichten, wie bei der Atherosklerose.
DIE CANTOS-STUDIE WAR EIN MEILENSTEIN FÜR DIE ANTIENTZÜNDLICHE THERAPIE VON GEFÄSSERKRANKUNGEN.
Ein Antikörper gegen verkalkte Gefäße
Die CANTOS-Studie war 2017 ein Meilenstein für die antientzündliche Therapie von Gefäßerkrankungen. Über 10.000 Patientinnen und Patienten mit einer Atherosklerose, die schon mal einen Herzinfarkt hatten, erhielten einen Antikörper gegen einen zentralen entzündungsfördernden Botenstoff, das Interleukin 1ß. Dieser Botenstoff löst Fieber aus, zieht Entzündungszellen und Blutplättchen an und aktiviert wiederum andere Botenstoffe. Der Antikörper fischt Interleukin 1ß aus dem Blut und im Verlauf traten bei den so behandelten Patientinnen und Patienten weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle auf. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer hatten zu Beginn auch hohe Werte des allgemeinen Entzündungsmarkers CRP, Abkürzung für „C-reaktives Protein“. Dieser Wert steigt an, wenn im Körper eine Entzündung vorliegt und kann im Blut gemessen werden. Es zeigte sich, dass der CRP-Wert umso stärker zurückging, je mehr die Patientinnen und Patienten von der Therapie profitierten. Andere Risikofaktoren wie Bluthochdruck und Blutfette veränderten sich durch den Antikörper nicht. Insgesamt ist der Antikörper jedoch sehr teuer und nicht komplett nebenwirkungsfrei, sodass er zur Behandlung der Atherosklerose bisher nicht zugelassen ist.
Sager und sein Team haben die Fragestellung der CANTOS-Studie nun von hinten aufgerollt. Sie wollten wissen, was passiert, wenn der Antikörper den entzündungsfördernden Botenstoff aus dem Blut entfernt. Dafür haben sie sich angeschaut, was sich in den Plaques und im Blut von Mäusen abspielt, wenn die Nager die Maus-Variante des Antikörpers erhielten. Zwei Effekte konnten sie beobachten: Fehlte Interleukin 1ß, wurden die Endothelzellen wieder deaktiviert, sie bauten ihre Oberflächenmoleküle ab, wodurch weniger Entzündungszellen aus dem Blut an ihnen haften blieben und in die Gefäßwand einwanderten. Der zweite Effekt war, dass im Knochenmark weniger Entzündungszellen produziert wurden, also weniger neutrophile Granulozyten und Monozyten, und dadurch weniger von ihnen im Blut vorhanden waren.
Ein Schritt zur individualisierten Medizin
Auch beim Menschen beobachteten die Münchner Forscher, dass Entzündungszellen aus dem Blut verschwinden. „Wir haben Kontakt zu den Leitern der CANTOS-Studie aufgenommen und konnten anhand der Blutwerte der Patienten zeigen, dass auch sie weniger Entzündungszellen hatten, wenn sie den Antikörper bekamen“, so Sager. Immerhin jeweils rund 3.000 Blutproben von behandelten und unbehandelten Patientinnen und Patienten haben sie untersucht.
Nicht bei allen sank die Zahl der Entzündungszellen gleich stark ab, wenn sie den Antikörper erhielten. In der verringerten Anzahl dieser Zellen im Blut sieht Sager daher einen wertvollen Marker, um zu beurteilen, wie gut jemand auf die Behandlung anspricht. Denn er zeigt den Effekt des Antikörpers spezifischer an als der Entzündungsmarker aus der CANTOS-Studie, der sich immer verändert, wenn irgendwo im Körper eine Entzündung vorliegt oder abklingt. Denkbar wäre, dass man das Präparat für vier Wochen verabreicht und dabei kontinuierlich misst, wie stark die Entzündungszellen im Blut zurückgehen. Damit könnte man vorab entscheiden, bei wem sich der sehr teure Antikörper langfristig lohnen würde. Erforderlich sind nun Studien, die diese Fragestellung genauer beleuchten.
Vielversprechendes Gicht-Präparat
Noch mehr Hoffnung setzt Sager auf ein anderes entzündungshemmendes Präparat: das Colchicin. Die chemische Verbindung aus Herbstzeitlosen wird schon lange zur Behandlung der Gicht eingesetzt. 2019 und 2020 zeigten zwei große Studien, dass Colchicin bei Herzinfarkt- und Atherosklerose-Patientinnen und -Patienten die Rate kardiovaskulärer Ereignisse verringerte. Sogar noch stärker als der Antikörper, den Patienten in der CANTOS-Studie erhielten. Zudem ist Colchicin wesentlich günstiger. Es ist zwar zugelassen, wird aber bisher nur zurückhaltend eingesetzt. Einige Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer hatten Nebenwirkungen im Magen-Darm-Bereich und vermehrte Infektionen. Um Colchicin breiter und gezielter einsetzen zu können, brauche es noch mehr Studien, um geeignete Patientinnen und Patienten besser zu identifizieren und Behandlungsbeginn, -dosierung und -dauer zu optimieren, erklärt Sager.
Er erforscht nun in einem seiner Projekte, über welche molekularen und zellulären Wege Colchicin das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte senkt. Ziel ist es auch hier, vor einer Behandlung Patientinnen und Patienten zu identifizieren, die besonders gut auf Colchicin ansprechen und bei denen der Nutzen mögliche Nebenwirkungen deutlich übersteigen würde.
„Unsere Forschung hat einen stark translationalen Charakter,“ so Sager. „Das heißt, wir schauen, ob und wie wir die Ergebnisse auf den Menschen übertragen können. Hier am Deutschen Herzzentrum München bekommen wir Blut- und Gewebeproben von Patientinnen und Patienten, die uns das ermöglichen.“
VIEL HOFFNUNG RUHT
AUF EINEM GICHT-PRÄPARAT.
Akuter Stress ist bei verkalkten Gefässen gefährlich
Sager und sein Team erforschen auch, warum es so gefährlich werden kann, wenn wir uns aufregen, etwa wenn unsere Lieblingsmannschaft spielt. Sie fanden bei Mäusen heraus, dass Entzündungszellen bei akutem Stress aus dem Blut verschwinden und in bestimmte Gewebe einwandern. Ziele waren die Haut, Lunge, Herz und, wenn vorhanden, Gefäßablagerungen. Die Ablagerungen werden dadurch instabiler, können also leichter einreißen und gefährliche Blutgerinnsel auslösen, die einen Herzinfarkt oder Schlaganfall verursachen können. „Auch bei Menschen konnten wir sehen, dass akuter Stress die Entzündungszellen im Blut verringert“, so Sager. „Das könnte bedeuten, dass insbesondere stressanfällige Personen, die bereits eine Atherosklerose haben, gefährdet sind und frühzeitig identifiziert werden sollten.“ Jetzt planen die Wissenschaftler nachfolgende Projekte, um auch diese Stressachse einmal therapeutisch nutzen zu können.