Ein Typ-2-Diabetes entsteht nicht über Nacht. Vielmehr entwickelt sich zunächst eine Vorstufe der Stoffwechselkrankheit: der Prädiabetes. Er geht mit einem erhöhten Risiko für Diabetes, aber auch für Herzinfarkt, Nieren- und Augenerkrankungen sowie verschiedene Krebsarten einher. Menschen mit Prädiabetes haben höhere Blutzuckerwerte als Gesunde, können aber in der Regel noch nicht medikamentös behandelt werden. Deshalb unterschätzen sie oft die drohende Gefahr, warnt DZD-Vorstand Professor Andreas Birkenfeld. Der Diabetes-Experte ist ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik IV des Universitätsklinikums Tübingen und Leiter des Instituts für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen des Helmholtz Munich an der Universität Tübingen. „Wenn wir mit Betroffenen über die Diagnose sprechen, hören wir häufig: also kein Diabetes, so ein Glück! Und dann lassen sie das auf sich beruhen. Dabei müssten sie gerade jetzt besonders viel tun", mahnt der Medizinprofessor, denn: „Wer jetzt vorsorgt, hat die beste Chance, sich dauerhaft vor Diabetes zu schützen."
Abnahme ermöglicht Remission
Wie man diesen Schutz erreicht, zeigt die Auswertung der deutschlandweiten Prädiabetes-Lebensstil-Interventions-Studie (PLIS). 1.105 Frauen und Männer mit diagnostiziertem Prädiabetes nahmen daran teil. Sie hatten zunächst die Menge und Zusammensetzung ihres Bauch- und Leberfetts untersuchen lassen sowie Biomoleküle, die für den Zuckerstoffwechsel bedeutsam sind. Anschließend änderten die Beteiligten ein Jahr lang ihren Lebensstil. Angeleitet von Ernährungsfachleuten versuchten sie, mehr Vollkornprodukte und weniger Fett zu essen und sich mindestens drei Stunden pro Woche körperlich zu betätigen – mit dem Ziel, deutlich abzunehmen. Mehr als ein Viertel von ihnen schaffte es, fünf Prozent oder mehr Gewicht zu reduzieren. Als ihre Biodaten erneut gemessen und mit den Ausgangswerten verglichen wurden, zeigten sich bedeutsame Unterschiede. „Bei etlichen Personen hatten sich die Blutzuckerwerte normalisiert. Sie haben durch ihren veränderten Lebensstil eine Remission des Prädiabetes erreicht. Wir bezeichnen sie als Responder. Andere hatten die angestrebte Remission verfehlt – die Non-Responder", fasst Andreas Birkenfeld zusammen.

IN REMISSION ZU GEHEN, BIETET SEHR GUTE CHANCEN AUF EIN LEBEN OHNE DIABETES UND SEINE ZAHLREICHEN FOLGEERKRANKUNGEN.
Was genau bedeutet es, in Remission zu gehen? Der Begriff leitet sich vom lateinischen „remittere“ ab, was „zurückschicken“ bedeutet. Er bezeichnet das Zurückversetzen einer Krankheit in ein weniger fortgeschrittenes Stadium. Bei Krebskranken spricht man von Remission, wenn ein Tumor sein Wachstum eingestellt hat. Beim Prädiabetes bedeutet Remission, dass sich der vormals gestörte Zuckerstoffwechsel wieder normalisiert. „Die Betroffenen sind nicht geheilt, sondern haben nach wie vor ein höheres Risiko als Gesunde, doch noch einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln", erläutert Birkenfeld. In Remission zu gehen, biete jedoch sehr gute Chancen auf ein Leben ohne Diabetes und seine zahlreichen Folgeerkrankungen, betont der Arzt und empfiehlt: „Diese Personen sollten also sehr genau ihre Blutzuckerwerte beobachten und auf normalem Niveau halten."
Risiko sinkt deutlich
Der Einsatz lohnt sich, wie eine Langzeitauswertung der DZD-Studie zeigt. Drei Jahre nach der Remission hatten die Betroffenen ein deutlich geringeres Risiko, einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln, als die Non-Responder. Ähnliche Erkenntnisse brachte eine amerikanische Studie an 480 Personen mit Prädiabetes. Diese nahmen innerhalb eines Jahres durch mehr Bewegung und gesündere Ernährung mindestens sieben Prozent ihres Ausgangsgewichts ab. Auch in dieser Studie gab es Responder, die ihren Zuckerstoffwechsel normalisieren konnten – und Non-Responder, denen das trotz der Gewichtsreduktion nicht gelang. Und auch hier hatten Erstere noch sechs Jahre nach der Lebensstiländerung ein deutlich verringertes Diabetes-Risiko im Vergleich zu den anderen.
Somit steht fest: Abnehmen und Remission gehen zwar häufig Hand in Hand, aber keinesfalls immer. Wenn nicht die Gewichtsabnahme den Ausschlag gibt, was dann? Des Rätsels Lösung liegt in der Körpermitte, genauer: im viszeralen Bauchfett, das den Darm umgibt. Es kann Entzündungsreaktionen auslösen und verringert dadurch die Empfindlichkeit vieler Organe gegenüber Insulin. Mit fatalen Folgen: Wenn Leber, Herz und Muskeln nicht mehr sensibel genug auf das Hormon reagieren, braucht es immer höhere Dosen davon, um den Blutzucker auf einem stabilen Niveau zu halten. Dann produzieren die Betazellen der Bauchspeicheldrüse immer mehr Insulin, bis sie irgendwann überfordert und schließlich geschädigt sind. Die Betroffenen gelten nun als Menschen mit Diabetes: Sie können nicht mehr genug eigenes Insulin herstellen und müssen ihrem Körper künstlichen Ersatz zuführen. Um diesen Teufelskreis zu stoppen, muss er rechtzeitig durchbrochen werden.
ES ERREICHEN VOR ALLEM DIEJENIGEN EINE REMISSION, DIE VIEL VISZERALES KÖRPERFETT ABBAUEN KÖNNEN.

Entscheidend ist die Körperfettverteilung
Genau das gelingt durch die Remission. Wie die gründliche Analyse der PLIS-Daten zeigte, konnten die Responder ihre Insulinsensitivität stärker verbessern als die Non-Responder. Zudem hatten sie mehr viszerales Bauchfett abgebaut und weniger Entzündungsproteine im Blut als die Non-Responder. „Wenn man Prädiabetes hat, dann ist schon ein gewisser Schaden an den Betazellen eingetreten und man hat eine Insulinresistenz. Je nachdem, wie weit dieser Prozess schon fortgeschritten ist, lässt er sich noch rückgängig machen oder eben nicht. Entscheidend ist dabei die Körperfettverteilung", erläutert Andreas Birkenfeld. „Deshalb erreichen vor allem diejenigen eine Remission, die viel viszerales Körperfett abbauen können. Je früher man damit beginnt, umso höher ist die Chance, dass man es schafft."
BEVOR MEDIKAMENTE ZUM EINSATZ KOMMEN, SOLLTE UNBEDINGT EINE LEBENSSTILINTERVENTION VERSUCHT WERDEN.
Auch die Veranlagung bestimmt über die Erfolgsaussichten mit: „Manche Menschen mit Prädiabetes haben ein höheres Risiko als andere, einen Diabetes zu entwickeln. Die gute Nachricht ist: Diejenigen mit niedrigem Risiko müssen gar nicht so viel an ihrem Lebensstil ändern. Allerdings sollten sie sofort damit beginnen", rät der Tübinger Arzt. „Wir empfehlen ihnen, sich gesund zu ernähren und mindestens 150 Minuten pro Woche Sport zu treiben, am besten mit Gleichgesinnten. Damit war unsere Niedrigrisikogruppe sehr erfolgreich." Dem stehen Menschen mit Prädiabetes mit einem hohen Diabetesrisiko gegenüber: Sie haben erhöhte Leberfettwerte, produzieren besonders wenig Insulin – und können mit einer Änderung ihres Lebensstils oft weniger bewirken. Dennoch konnten die DZD-Forscher zeigen, dass bei diesen Menschen eine Steigerung der Lebensstilanstrengungen auch mehr Erfolg mit sich brachte. Im Notfall können ihnen Medikamente helfen, wie Metformin, die die Insulinsensitivität erhöhen, meint Andreas Birkenfeld.

Normalisierung der Blutzuckerwerte
Bevor Medikamente zum Einsatz kommen, sollte unbedingt eine Lebensstilintervention versucht werden, rät der Tübinger Forscher. Dies gelte in besonderem Maße für Betroffene in Ländern und Communitys mit einem weniger gut ausgestatteten Gesundheitssystem: „Eine Umstellung der Aktivitäts- und Ernährungsgewohnheiten verursacht nur geringe Kosten und kann im Prinzip überall auf der Welt funktionieren." Allerdings sei hier wie dort nicht allein eine Gewichtsabnahme der Garant für eine Remission des Prädiabetes, sondern die Normalisierung der Blutzuckerwerte. „Viele Menschen aus China, Südasien oder Afrika legen nicht so schnell an Gewicht zu wie wir Europäer und können trotzdem ein hohes Diabetes-Risiko haben. Sie wirken schlank, weil sie weniger Fett im Fettgewebe, dafür aber in Leber und Muskeln einlagern. Dies ist genetisch bedingt", betont der DZD-Forscher.
Dass es medizinisch bedeutende Unterschiede zwischen Menschen aus verschiedenen Regionen der Erde gibt, wird der Wissenschaft erst allmählich bewusst. Dabei nimmt die Zahl der Menschen, die neu an Typ-2-Diabetes erkranken, im globalen Süden besonders stark zu. „Wir können aber unsere Erkenntnisse aus Europa und Amerika nicht etwa auf Südasien übertragen", erklärt Andreas Birkenfeld zusammen mit seinem indischen Kollegen Dr. Viswanathan Mohan in einem aktuellen Kommentar im Fachmagazin *Nature Reviews Endocrinology*. Die beiden Forscher haben mit ihren Teams in Tübingen und in der südindischen Metropole Chennai die Biodaten von insgesamt 9.000 Menschen mit Prädiabetes verglichen. „Wir sind gerade dabei, Risikomarker zu identifizieren, die für Südasiaten ebenso gelten wie für Europäer. Das hat bisher noch niemand gemacht. Damit können wir nun bestimmte Risikogruppen definieren und können präzise erfassen, welche Maßnahmen und Therapien besonders vorteilhaft für welche Personengruppen sind."
