Rund um den 50. Geburtstag bekommen viele Menschen in Deutschland Post – von ihrer Krankenkasse, die sie dazu ermutigt, eine Darmspiegelung in Anspruch zu nehmen. Solche Screenings wie Spiegelungen oder Mammografien sind als Vorsorge etabliert, der persönliche und der gesellschaftliche Nutzen sind klar. Aber weshalb bekommen wir keinen solchen Brief mit Hinweisen zu unserer psychischen Gesundheit? Und wann müsste der idealerweise im Briefkasten liegen? Die Antwort der Forschung darauf wäre: für manche Menschen schon direkt zur Geburt, für viele spätestens im jungen Erwachsenenalter. Das Deutsche Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG), das im Mai 2023 gegründet wurde, legt in seiner Aufbauphase den Fokus auf den Forschungsbereich Früherkennung und Prävention. Die Teams gehen die komplexe Problematik dabei mit verschiedenen Projekten an – beginnend schon bei Neugeborenen.
Denn Studien zeigen, dass etwa 75 Prozent aller psychischen Erkrankungen vor dem 25. Lebensjahr beginnen. Suizid stellt weltweit zudem die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren dar. Die Verläufe der Erkrankungen abzumildern oder deren Ausbruch zu verhindern, ist wichtig. Psychische Erkrankungen zählen insgesamt zu den drängendsten gesundheitlichen Herausforderungen unserer Zeit.
Wer gehört zur Risikogruppe?
Ein wichtiger Teil der Primärprävention besteht darin, besonders gefährdete Menschen frühzeitig zu erkennen und Krankheiten zu verhindern. Denn das Risiko einer psychischen Erkrankung ist längst nicht bei allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland gleich hoch. „Eine Frühgeburt ist ein Risikofaktor", sagt Professor Peter Falkai, Sprecher des DZPG und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dieser Umstand wird am DZPG-Standort Tübingen in den Fokus genommen. Dort werden Familien von Frühgeborenen im Rahmen eines Früherkennungsprogramms engmaschig betreut, um mögliche Symptome psychischer Erkrankungen bei dem Kind zu erkennen und auch, um den durch die Frühgeburt ausgelösten Stress in der Familie zu reduzieren. Parallel wird eine große Zwillingskohorte nachverfolgt, um Risiko- und Resilienzfaktoren zu verstehen, Frühsymptome zu erkennen und Interventionsmöglichkeiten anzubieten.
FÖRDERMASSNAHMEN MÜSSEN DIREKT DORT ANSETZEN, WO DIE KINDER SIND, ZUM BEISPIEL IN DEN SCHULEN.

WENN EIN KIND PSYCHISCH BELASTET IST, GEHT ES SELTENER ZUR SCHULE, ZEIGT SCHLECHTERE LEISTUNGEN UND ENTWICKELT WENIGER SOZIALE KOMPETENZEN UND PROBLEMLÖSEFÄHIGKEITEN.

Frühes Trauma, weitreichende Folgen
Auch frühkindliche Traumata wirken sich auf die spätere psychische Gesundheit aus. Professor Thomas Ehring vom DZPG-Standort München sagt: „Körperliche und sexuelle Gewalterfahrungen in der Kindheit, Vernachlässigung, aber auch emotionale Gewalterfahrungen wie Abwertung oder Ausschluss sind prägende Erlebnisse, die erhebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben können." Besonders langfristig wirken sie, wenn sie in den Entwicklungsphasen passieren, in denen die betroffenen Kinder grundlegende Fähigkeiten wie Beziehungsaufbau, Emotionsregulation und Selbstbildentwicklung erlernen. Für ihre Forschung haben die Münchner eine Gruppe von Betroffenen im Erwachsenenalter rekrutiert, die in der Kindheit ein solches Trauma erlitten. „Sie haben häufig bereits psychische Störungen entwickelt", so Ehring. Die Erkenntnisse aus der Forschung mit dieser Generation der Betroffenen soll dazu beitragen, dass Kinder und später auch Erwachsene, die ein Trauma erleiden, in Zukunft eine auf sie zugeschnittene Therapie erhalten können.
Mit drei weiteren Risikofaktoren für psychische Probleme beschäftigt sich ein Projekt des DZPG im Bochumer Stadtteil Wattenscheid: das Aufwachsen in städtischen Ballungsräumen, Arbeitslosigkeit eines oder beider Elternteile sowie ein Minderheitenstatus. In Wattenscheid leben überdurchschnittlich viele Menschen in prekären Verhältnissen, mit Migrationshintergrund oder von Arbeitslosigkeit betroffen. Das Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ) der Ruhr-Universität Bochum entwickelt hier ein neuartiges Präventionskonzept unter dem Motto „Urban Mental Health" (UMH). Dabei werden die Erkenntnisse aus der Forschung direkt zu den Kindern und Jugendlichen gebracht, denn das Projekt bringt Wissenschaft, Politik und Praxis zusammen. Es zielt auf die seelische Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern, die mit gesteigerter Resilienz und einem Curriculum für die Schülerinnen und Schüler deren Gesundheitskompetenz („Mental Health Literacy“) – das Wissen über seelische Gesundheit – steigern sollen.
Vom psychisch erkrankten Kind zum Frührentner
Professorin Silvia Schneider leitet das Forschungsprojekt. Die Direktorin des Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit (FBZ), Ruhr-Universität Bochum und ebenfalls DZPG-Sprecherin sagt: „Auf uns rollt ein großes Problem zu. Denn auf jedes psychisch erkrankte Kind, das nicht behandelt wird, kommen Kaskadeneffekte zu. Wenn ein Kind psychisch belastet ist, geht es seltener zur Schule, zeigt schlechtere Leistungen und entwickelt weniger soziale Kompetenzen und Problemlösefähigkeiten. Das führt dazu, dass Betroffene im Erwachsenenalter auf dem Arbeitsmarkt schwerer vermittelbar sind, häufiger arbeitslos und oft früh verrentet werden. Das ist nicht nur für die Einzelperson problematisch, sondern auch für die Gesellschaft, weil immer mehr Menschen betroffen sind, während die Gruppe der Kinder als Ressource kleiner wird. Es ist klar, dass wir ein massives Problem haben, wenn wir hier nicht handeln." Wie dieses Handeln aussehen kann, ist für Schneider klar: „Wir müssen psychische Gesundheit, Bildung und soziale Unterstützung zusammendenken“ – so wie im Urban-Mental-Health-Projekt.
An der FU Berlin haben die Forschenden Kinder von Eltern im Fokus, die aufgrund ihrer eigenen psychischen Belastung Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Kindern erleben. Hier wird gerade eine App als niederschwelliges Angebot entwickelt, das Eltern dazu befähigt, ihre psychische Gesundheit zu stärken und ein positives Erziehungsverhalten zu fördern.
Screenings ohne Weiterbehandlung
Was aber wäre mit einem Screening im frühen Kindesalter? Im Grunde, so Silvia Schneider, gibt es das bereits. „Bei Schuleingangsuntersuchungen zeigt sich, dass bis zu 98 Prozent der Kinder verschiedene Förderbedarfe haben. Dieses Wissen bleibt jedoch oft folgenlos. Es reicht nicht, wenn Eltern dafür verantwortlich gemacht werden – vor allem in Familien, die ohnehin belastet sind. Fördermaßnahmen müssen direkt dort ansetzen, wo die Kinder sind, zum Beispiel in den Schulen. Darüber hinaus muss die Vernetzung in das psychotherapeutische beziehungsweise medizinische Hilfesystem verbessert werden, falls sich pädagogische Fördermaßnahmen als nicht ausreichend erweisen."
Aber auch an der Sekundärprävention, der Verbesserung von Therapiechancen durch frühe Erkennung von Erkrankungen, forscht das DZPG. „Das DZPG evaluiert gerade Zentren für Früherkennung und Erstbehandlung von psychischen Erkrankungen", sagt Peter Falkai. Das Ziel: Kinder, Jugendliche und ihre Familien sollen als Anlaufpunkte kompetente Früherkennungszentren zur Verfügung haben, die auf psychische Störungen spezialisiert sind. „Nur Fachleute können Symptome, die auf eine psychische Erkrankung hinweisen, von solchen unterscheiden, die sich im Rahmen von normalen Reifungs- und Entwicklungsprozessen zeigen. Deshalb brauchen wir eine strukturierte Erstversorgung, vergleichbar mit einer Stroke Unit in der Neurologie. Erstbehandlungszentren sollten speziell auf die Erstmanifestation von psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Psychosen ausgerichtet sein", so Falkai weiter. „Jeder DZPG-Standort könnte solche Zentren aufbauen, die dann standardisierte und evaluierte Behandlungsprotokolle umsetzen."

WIR MÜSSEN PSYCHISCHE GESUNDHEIT, BILDUNG UND SOZIALE UNTERSTÜTZUNG ZUSAMMENDENKEN.