SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)

Eine App gegen Alzheimer

Eine frühzeitige Diagnose ist entscheidend für die Behandlung von Demenzen. Helfen soll dabei ein digitaler Gedächtnistest auf dem Smartphone. Dieser kann sogar schon dann Alarm schlagen, wenn sich eine Demenz gerade erst entwickelt. Arztpraxen nutzen diese App bereits in Pilotprojekten.
Sein erster Versuch scheiterte mit Pauken und Trompeten: In seiner Doktorarbeit versuchte David Berron, hochgradig sensitive Gedächtnistests für die frühen Phasen der Alzheimer-Erkrankung zu entwickeln. „Um möglichst viele Probanden zu testen, haben wir mit studentischen Hilfskräften eine webbasierte Anwendung entworfen", sagt der Experte für kognitive Neurowissenschaften. Seinen Ansatz verwarf er allerdings schnell wieder: „Die Zusammenhänge waren viel zu komplex für ein studentisches Projekt!"

Heute schmunzelt Berron, wenn er an diese Anfänge zurückdenkt. Aus dem Doktoranden von einst ist längst ein etablierter Wissenschaftler geworden, er forscht am Magdeburger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Die Idee von damals hat er keinesfalls aufgegeben, nur hat sie inzwischen größere Dimensionen angenommen: Sein Team macht inzwischen Gedächtnistests per Smartphone möglich. „Auf diesem Feld ist viel in Bewegung geraten, es herrscht eine richtige Aufbruchsstimmung", sagt er.

Digitale Tests als Spiegel biologischer Veränderungen

Zwei Ziele verfolgt die Forschung mit den digitalen Tests: Erstens soll die Diagnose von Demenzerkrankungen wie Alzheimer leichter werden. Und zweitens sollen schon im Frühstadium kleinste verdächtige Veränderungen des Gedächtnisses registriert werden. Das ist deshalb wichtig, weil neueste Wirkstoffe den Krankheitsverlauf zwar abbremsen können – allerdings deutet vieles darauf hin, dass sie dafür bereits frühzeitig eingesetzt werden müssen. Eine Demenz rechtzeitig zu erkennen, wird deshalb immer wichtiger. Bislang ist die Früherkennung in der hausärztlichen Versorgung jedoch schwierig; die üblichen Gedächtnistests stellen Veränderungen erst dann zweifelsfrei fest, wenn die Erkrankung schon weiter fortgeschritten ist. Vor diesem Hintergrund arbeiten David Berron und sein Team mit einer Doppelstrategie: Sie untersuchen Probanden per hochauflösender Magnetresonanztomografie. Dadurch stellen sie fest, welche Bereiche des Gehirns welche Rolle für das Gedächtnis spielen und wie sie sich im Krankheitsverlauf verändern. Und mit ihren digitalen Verfahren überprüfen sie gleichzeitig, wie sich diese Veränderungen in kognitiven Leistungen widerspiegeln. Die Hoffnung ist, dass solche Tests künftig immer bessere Rückschlüsse auf die Vorgänge im Gehirn ermöglichen.
WIE GUT DER TEST AUSFÄLLT, HÄNGT VON VIELEN INDIVIDUELLEN FAKTOREN AB.
Herkömmliche Tests kommen in Gedächtnisambulanzen zum Einsatz, das sind spezialisierte Einrichtungen an großen Kliniken. Diese Verfahren müssen allerdings von einer Fachkraft betreut werden und finden im Rahmen weiterer Untersuchungen statt – das führt zu langen Wartezeiten auf einen Termin. Außerdem: Die Testergebnisse sind Momentaufnahmen und hängen etwa von der Tagesform ab. Und vor allem: Im Sinne besserer Früherkennung wäre es sinnvoll, ließen sich Gedächtnisprobleme bereits beim Hausarzt zuverlässig feststellen. Die vereinfachten Methoden, die hier meist verwendet werden, sind jedoch wenig treffsicher beim Erkennen früher Krankheitsstadien.

Die App als Diagnosehilfe für Arztpraxen

„Ideal wäre deshalb ein Verfahren, das so ähnlich funktioniert wie ein 24-Stunden-EKG: Man nimmt die notwendige Technik mit nach Hause und das Ergebnis bildet einen längeren Zeitraum ab", sagt David Berron. Er hat deshalb zusammen mit weiteren profilierten Fachleuten das Start-up „neotiv“ gegründet, das eine entsprechende App entwickelt hat und die Ergebnisse aus der Forschung direkt in die Praxis bringt. Die Idee dahinter: Wenn in der Hausarztpraxis der Verdacht auf Gedächtnisprobleme aufkommt, reicht eine Verschreibung, um die Zugangsdaten zur App zu bekommen – und der Patient oder die Patientin kann über mehrere Wochen hinweg immer wieder Tests absolvieren: auf dem Smartphone oder Tablet. Jeder Durchgang dauert nur ein paar Minuten. Die Ergebnisse helfen schließlich bei der Diagnose. „Die Beurteilung der Befunde liegt beim zuständigen Arzt. Die App erstellt ein Messprotokoll, aber keine Diagnose", betont Berron.

Die App wird schon in klinischen Studien eingesetzt – und mit einigen Krankenkassen gibt es Pilotprojekte, sodass Praxen sie als diagnostisches Hilfsmittel verschreiben können. Denn dass die Technik funktioniert, ist inzwischen belegt. Derzeit arbeitet Berrons Team daran, die Tests noch feinfühliger zu machen und in der Regelversorgung zu etablieren: kein Selbstläufer, denn noch fehlen Leitlinien für solch innovative Ansätze in der Demenzversorgung.
IDEAL WÄRE DESHALB EIN VERFAHREN, DAS SO ÄHNLICH FUNKTIONIERT WIE EIN 24-STUNDEN-EKG.

Bilder als Testobjekte

Die App arbeitet mit Bildern; wer das Programm öffnet, durchläuft drei verschiedene Test-Situationen: In der ersten geht es um die Präzision des Gedächtnisses. Aufnahmen von einem Telefon und Schlüssel lassen sich beispielsweise gut auseinanderhalten. Aber wie sieht es aus, wenn zwei verschiedene Telefonmodelle zur Auswahl stehen – gelingt es auch da noch, sich an das vorher präsentierte, richtige Bild zu erinnern? In der zweiten Situation geht es um das sogenannte assoziative Gedächtnis. Es wird etwa ein Zimmer mit drei Gegenständen gezeigt. Nach einer halben Stunde muss man sich nicht nur an diese Objekte erinnern, sondern auch an ihre Anordnung innerhalb des Zimmers. Und schließlich Test Nummer drei: 80 Bilder werden der Reihe nach vorgeführt. Nach einer Stunde werden sie wiederholt, zusammen mit 40 neuen Motiven. Welche der Aufnahmen hat man schon einmal gesehen, welche sind neu?
WIR WOLLEN PRÄZISERE ERGEBNISSE ERREICHEN.

Die Früherkennung als heiliger Gral der Neurowissenschaft

„Wir wollen mit diesen Tests präzisere Ergebnisse erreichen als die bisherigen Verfahren", sagt David Berron. Die üblichen Tests basierten oft auf Grundlagen aus den 1960er-Jahren, die zwar immer wieder angepasst worden seien, aber viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse nicht berücksichtigten. Und vor allem: Die App erkennt nicht nur, ob eine Aufgabe korrekt gelöst wird oder nicht, sondern auch den Weg dorthin. Wie lange hat es bis zur Lösung gedauert? War der Patient oder die Patientin unsicher, hat mehrere Anläufe genommen? Und: Wie entwickelt sich die Leistung über den Zeitverlauf hinweg, hatte die Person vielleicht einfach nur einen schlechten Tag?
WIE ENTWICKELT SICH DIE LEISTUNG ÜBER DEN ZEITVERLAUF HINWEG, HATTE DIE PERSON VIELLEICHT EINFACH NUR EINEN SCHLECHTEN TAG?
Ziel ist es, die Tests so präzise zu justieren, dass man aus dem Ergebnis erkennen kann, welche Gehirnnetzwerke bereits von der Erkrankung betroffen sind. Daraus lassen sich dann Rückschlüsse darauf ziehen, wie fortgeschritten die Erkrankung ist. „Man unterscheidet mehrere Phasen der Alzheimer-Krankheit", erklärt David Berron: „Es beginnt mit der präklinischen Phase, in der die Alzheimer-Pathologie nachweisbar ist, obwohl die Patienten selbst zum Teil noch keine Beeinträchtigung spüren. Danach folgt die Phase der leichten kognitiven Beeinträchtigung. Man spricht von ,mild cognitive impairment‘, kurz: MCI. Hier lassen sich bereits Minderungen der geistigen Leistung feststellen, aber die betroffenen Personen kommen im Alltag noch selbstständig klar. Anschließend folgen Demenzphasen, in denen auch die Unabhängigkeit und Alltagskompetenz beeinträchtigt sind." MCI lässt sich durch herkömmliche Tests in einer Gedächtnisambulanz zuverlässig feststellen – und auch die App ist dazu in der Lage. 

Der heilige Gral für die Forschung ist es indes, die präklinische Phase zu identifizieren: Hier sind die Schäden im Gehirn noch nicht allzu weit fortgeschritten, sodass bei frühzeitiger Therapie die Krankheitsentwicklung eines Tages möglicherweise sogar gestoppt werden könnte. Eine Herausforderung: Menschen in diesem frühen Krankheitsstadium zu erkennen und ihre subtilen kognitiven Veränderungen über die Zeit zu erfassen, ist sehr schwierig. David Berron ist sich aber sicher, dass digitale Ansätze diese Hürde nehmen können: „Diese Nuss wollen wir mit unseren Gedächtnistests knacken!"
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