Herr Schultze, wie viele der Techniken, die Sie heute in der Forschung anwenden, gab es schon während Ihres Medizinstudiums?
Gar keine. Stopp, das stimmt nicht: Es gab damals in den 1980er-Jahren schon Computer!
Die waren aber deutlich langsamer als die heutigen Rechner.
Ja, und genau daran lassen sich die Voraussetzungen für Präzisionsmedizin ablesen: Wir brauchen erstens die Möglichkeit, sehr viele Daten zu gewinnen – dafür ist die Technik nötig, mit der wir das Genom entschlüsseln, und die gab es damals noch nicht. Zweitens brauchen wir eine äußerst starke Rechenleistung, um mit den Daten auch arbeiten zu können. Vieles von dem, was wir heute in der Forschung realisieren können, war selbst vor wenigen Jahren noch nicht vorstellbar.
Was hat Sie dazu gebracht, sich auf die Präzisionsmedizin zu spezialisieren?
Da gab es ein Aha-Erlebnis in den späten 1990er-Jahren. Ich forschte gerade in Boston an der Harvard Medical School und ein Stockwerk über mir saß Todd Golub. Er hat eine Technik genutzt, mit der man noch vor der Erfindung der DNA-Sequenzierung messen konnte, welche Gene in verschiedenen Zellen vorhanden sind. Er war der Erste, der das auf eine konkrete Erkrankung angewandt hat, und erzielte damit große Fortschritte bei der Behandlung von Leukämie. Das hat mich unglaublich fasziniert und deshalb bin ich auch in diesen Bereich gegangen.
Was genau hat Ihr Kollege damals mit den Zellen gemacht?
Er hat in der sogenannten Transkription der Gene nach Besonderheiten gesucht – in der Auflistung aller Gene, die in einer Zelle aktiv sind. Eine Frage war zum Beispiel, ob sich diese bei Patientinnen und Patienten mit oder ohne Leukämie unterscheiden. Dazu musste er eine gewaltige Menge an Daten analysieren, also setzte er schon damals einen Algorithmus ein. Und er konnte zeigen, dass man in den Genen tatsächlich bestimmte Muster finden kann. Todd Golub sagte damals übrigens immer: Diese Technik wird die Pathologen ersetzen.
Hat er recht behalten?
Nein. Die Technik hat nichts ersetzt, aber sie unterstützt die diagnostischen Disziplinen in der Medizin. Denken Sie nur daran, was gute Ärztinnen und Ärzte ausmacht: Sie befragen die Patientinnen und Patienten, schauen sich deren Körper an und machen diagnostische Tests wie ein Röntgenbild oder ein Blutbild. Dann suchen sie in den Informationen, die sie daraus gewinnen, nach einem Muster, das auf eine bestimmte Krankheit hindeutet. Bei der Präzisionsmedizin ist das Vorgehen exakt gleich. Wir suchen nach Mustern, die wir mithilfe des maschinellen Lernens, also mit Methoden der Künstlichen Intelligenz, erkennen können.
Moment: Eine Ärztin oder ein Arzt schaut sich aber den ganzen Menschen an, während Sie mit Ihren Methoden auf der Ebene von einzelnen Molekülen unterwegs sind.
Es geht über verschiedene Skalen, da haben Sie recht: Von der gesamten Population über die einzelnen Patientinnen und Patienten und deren Organe bis hinunter zu den Molekülen. Unser Ansatz ist die sogenannte Systemmedizin. Darin versuchen wir, die Informationen über die verschiedenen Skalen hinweg zusammenzubringen.
Sie sind Experte für die Einzelzell-Genomik. Was ist das für eine Technik?
Mit ihr können wir die molekularen Fingerabdrücke aller Zellen in einem Organ in ihrer Gesamtheit anschauen. Dadurch gewinnen wir eine gewaltige Menge an Informationen – und können dann mithilfe von Computern anfangen, darin nach Mustern zu suchen, die etwa bei allen Patientinnen und Patienten mit einer bestimmten Krankheit auftauchen.
IN DEN INFORMATIONEN, DIE WIR ÜBER EINZELZELL-GENOMIK GEWINNEN, KÖNNEN WIR MITHILFE VON COMPUTERN NACH MUSTERN VON ERKRANKUNGEN SUCHEN.
Während der Pandemie haben Sie diese Technik auf Corona angewendet. Was haben Sie herausgefunden?
Wir wussten von anderen Infektionskrankheiten, dass viele Menschen eine genetische Konstellation haben, die es dem Körper einfach oder auch schwerer macht, mit einem Virus umzugehen. Die Anfälligkeit für schwere Corona-Verläufe, so war unsere Vermutung, ist auch genetisch begründet. Deshalb haben wir mithilfe der Einzelzell-Genomik solche Patientinnen und Patienten analysiert, die in jungem Alter einen schweren Verlauf hatten. Und kamen zu einem interessanten Ergebnis ...
Welches war das?
Wir haben einen wesentlichen Schalter gefunden, der bei schweren Verläufen im Immunsystem nicht umgelegt ist. Er wird einfach nicht angeschaltet und deshalb reagiert das Immunsystem des Patienten nicht adäquat auf die Infektion mit dem Virus. Als Ergebnis läuft das Immunsystem sozusagen heiß, es überreagiert. Wir haben deshalb nach Medikamenten gesucht, die diese Überreaktion wieder normalisieren können. Wir haben herausgefunden, dass es ein Immunsuppressivum namens Dexamethason gibt, das diese Wirkung hat und deshalb bei dem betroffenen COVID-Subtyp funktionieren muss.
ICH LASSE MICH EINFACH VON DEN DATEN ÜBERRASCHEN.
Wie hat die Fachwelt auf diese Erkenntnis reagiert?
Wir haben das mit Kolleginnen und Kollegen diskutiert, die wiederum die Weltgesundheitsorganisation unterrichteten, aber die war anfangs eher skeptisch. Bei COVID-19 ein Immunsuppressivum zu verabreichen, klingt ja auch erst einmal nicht schlüssig. Bis es dann, ganz unabhängig von unseren Arbeiten, in England eine große Studie gab, die unsere Ergebnisse genau bestätigt hat: Dexamethason hat zielgenau bei der Subgruppe funktioniert, für die wir das vorhergesagt hatten – bei allen anderen Patientinnen und Patienten allerdings nicht.
War das für Sie eine Art Fingerübung, um mit der Einzelzell-Technik auch im Bereich von neurodegenerativen Erkrankungen tätig zu werden?
Fingerübung ist ein guter Begriff, denn COVID-19 ist eine Erkrankung mit unfassbar starker Immunantwort. Dort eine Veränderung in den Genen zu finden, ist also vergleichsweise einfach – leichter jedenfalls als bei chronischen Erkrankungen wie etwa Alzheimer oder Parkinson. Aber mir macht unser Erfolg Mut, uns jetzt an die schwierigeren Fragestellungen heranzuwagen.
Nun sind Sie ja Immunologe und eigentlich kein Experte für neurodegenerative Erkrankungen ...
... und gerade deswegen kann ich unvoreingenommener auf dieses Feld schauen. Bei Alzheimer zum Beispiel standen über Jahrzehnte die sogenannten Plaques im Fokus der Forschung; das sind Eiweißklumpen, die sich im Gehirn bilden. Fast alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren auf ihrer Spur unterwegs. Inzwischen weiß man, dass Alzheimer weitaus komplexer ist. Auch wir werfen mit der Einzelzell-Genomtechnik einen frischen Blick auf Alzheimer. Es stellt sich kristallklar heraus, dass entzündliche Parameter ein ganz wesentlicher Aspekt der Krankheit sind. Ich finde, darin liegt der Charme unseres Zugangs: Ich lasse mich einfach von den Daten überraschen – und manchmal tauchen da Aspekte auf, die vorher niemand vermutet hat, die aber die Krankheit erheblich steuern können.
MAN SIEHT IM BLUT VON ALZHEIMER-PATIENTINNEN UND -PATIENTEN SCHON FRÜH VERÄNDERUNGEN.
Wo genau suchen Sie nach solchen Anzeichen?
Man sieht tatsächlich schon im Blut von Alzheimer-Patientinnen und -Patienten früh Veränderungen. Damit sind wir wieder zurück bei den Mustern: Wir suchen nach typischen Parametern in den Molekülen und versuchen, mit ihnen schon feine Veränderungen zu erkennen. Es gibt aber natürlich auch klinische Studien, an denen wir beteiligt sind, und wir möchten auch das Genmaterial von verstorbenen Patientinnen und Patienten untersuchen. Wir knüpfen also an unterschiedlichsten Stellen an die Forschung im DZNE an.
Das klingt nach einer Revolution in der Forschung.
So würde ich es nicht nennen, denn eine Revolution würde ja bedeuten, dass man alles Bestehende über den Haufen wirft. Die bestehenden Methoden und Ansätze sind natürlich weiterhin notwendig. Allerdings steht die Medizin vor einem wichtigen Entwicklungsschritt. Ich sehe da eine Parallele zur Chemie und zur Physik: Diese Disziplinen sind schon vor einigen Jahrzehnten quantitativ geworden; es sind immer mehr Daten und Messungen einbezogen worden. Das ist ein Prozess, den wir jetzt auch bei uns in der Medizin hinkriegen müssen