SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung (DZG)

Individuell und zielsicher – Präzisionsmedizin

Mit Präzisionsmedizin wird eine persönlich zugeschnittene Behandlung von Patientinnen und Patienten ermöglicht: die passende Therapie zur richtigen Zeit in der nötigen Dosis. Die Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung wirken stark an dieser Entwicklung mit.
Wir Menschen sind alle aus demselben Holz geschnitzt und doch ist jeder von uns ein Individuum: Ein erwachsener Körper besteht aus rund 75 Billionen Zellen und in jeder dieser Zellen steckt mit der DNA ein ganz persönlicher Bauplan, den wir unser Leben lang in uns tragen. Durch Umweltfaktoren oder einen ungünstigen Lebensstil kann es zu Veränderungen in der DNA kommen – und dadurch können Krankheiten ausgelöst werden. Oder wir tragen von Geburt an die Veranlagung zu Erkrankungen in unseren Genen – und haben damit ein höheres Risiko, dass sie hervorbrechen. In der Vergangenheit wurden Therapien in der Regel nur nach sehr allgemeinen Parametern bestimmt: So entscheiden beispielsweise häufig lediglich Alter oder Gewicht darüber, wie viele Tabletten wir von einem Medikament einnehmen müssen. Die Präzisionsmedizin will mehr: Sie schließt genetische, biologische oder histologische Eckdaten mit ein, um eine genau zugeschnittene Behandlung zu ermöglichen. Mithilfe intelligenter moderner Diagnostik können Medizinerinnen und Mediziner damit ein Verständnis der Erkrankung des Einzelnen erreichen, die über die klassische Medizin hinausgeht. In diesem Sinne ist Präzisionsmedizin ein Versprechen: Sie ist das Versprechen, dem einzelnen Patienten oder der einzelnen Patientin zur richtigen Zeit die passende Therapie in der nötigen Dosis zu ermöglichen. Diese genaue, individuelle Medizin wird bereits in der Krebstherapie, bei Autoimmunerkrankungen oder Infektionen wie Hepatitis C angewendet und hat schon immense Fortschritte ermöglicht. Ihr Potenzial ist jedoch noch lange nicht ausgeschöpft.

Vorteile

Präzisionsmedizin ist vor allem eins: individuell. Das bedeutet, dass sie so genau wie möglich auf die persönlichen Merkmale eines Menschen abgestimmt ist. Im Vergleich zu einer Standardtherapie kann sie helfen, Nebenwirkungen zu reduzieren oder ganz zu vermeiden. Sie kann auch dafür sorgen, dass die genetisch bedingte Veranlagung zu einer Krankheit genau identifiziert wird – und dass präventiv passende Maßnahmen getroffen werden können. Oder sie ermöglicht eine Vorhersage darauf, wie gut Patientinnen und Patienten auf eine konkrete Therapie ansprechen werden. So kann in der Krebsbehandlung beispielsweise durch die genaue Analyse eines Tumors ein optimal passendes Medikament ermittelt – und damit Leben verlängert werden.

TECHNOLOGIE

Präzisionsmedizin wäre nicht möglich ohne modernste molekulare Diagnosemethoden: So kann beispielsweise mittels Genomsequenzierung der individuelle Bauplan in der menschlichen Körperzelle aufgeschlüsselt werden. Mit einer Hochdurchsatz-Sequenziermaschine werden heute innerhalb weniger Stunden Tausende Mutationen in einem Tumor detektiert. Das ermöglicht dann im Optimalfall die Auswahl einer genau dafür passenden Therapie. 

Bei der Sequenzierung entstehen riesige Datenmengen, die mit immer leistungsfähigeren Technologien und Methoden wie Big Data, Künstlicher Intelligenz (KI) und Deep Learning in immer kürzerer Zeit analysiert werden können. Gleichzeitig sammeln Forscherinnen und Forscher die Daten von möglichst vielen Menschen in sogenannten Biodatenbanken: Sie sollen noch bessere Vorhersagen ermöglichen. Deshalb ist hier die Zusammenarbeit von Forschenden auf nationaler und internationaler Ebene gefragt. Auch die Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung kooperieren in zahlreichen Projekten und führen gemeinsam Datenbanken, um einen schnellen Fortschritt der Präzisionsmedizin zu unterstützen. In Zukunft soll es möglich werden, mit den Daten einen „digitalen Zwilling“ einer Patientin oder eines Patienten zu schaffen – ein Computermodell, mit dem Therapien getestet und optimiert, Risiken minimiert und der individuelle Verlauf einer Krankheit besser vorhergesagt werden können.

BIOMARKER

Technologische Entwicklungen machen immer tiefergehende Analysen von immer kleineren Proben möglich. Dazu zählt insbesondere die Untersuchung von molekularen Biomarkern wie Proteinen, Enzymen oder Gensequenzen. Sie geben Hinweise darauf, ob im Körper krankhafte Prozesse ablaufen. Nach ihrer Analyse können Medizinerinnen und Mediziner besser abschätzen, welche Wirkung – und auch welche Nebenwirkungen – von einer Behandlung zu erwarten sind. Oder sie können erkennen, dass ein erhöhtes Risiko für eine Erkrankung vorliegt. Auf Basis dieser Informationen können sie die nach aktuellstem Wissen wirksamste Behandlung festlegen. 

Wenn Daten vieler Patientinnen und Patienten vorliegen, kann man darin per Clusteranalyse nach Mustern suchen und beispielsweise Subtypen einer Erkrankung identifizieren. Bei Diabetes ist das bereits erfolgreich gelungen: Dort weiß man heute, dass einzelne Typen einen unterschiedlichen Krankheitsverlauf erleben sowie verschiedene Risiken für Folgeerkrankungen haben und entsprechend behandelt werden sollten. Hier haben unter anderem auch leistungsfähige bildgebende Verfahren die Einteilung unterstützt: Bei der Suche nach den Prädiabetes-Subtypen wurde damit zum Beispiel die Körperfettverteilung ermittelt.

RISIKEN

Der immense Fortschritt, den Präzisionsmedizin möglich macht, birgt auch Nachteile. So gibt es klinische Risiken: Eine individuellere Therapie kann beispielsweise neuartige Spektren an Nebenwirkungen provozieren. Bevor bestimmte Verfahren routinemäßig in der klinischen Praxis eingesetzt werden, müssen sie in belastbaren klinischen Studien gründlich geprüft werden. Zudem sollten innovative Verfahren ausschließlich in zertifizierten Zentren und Institutionen der Schwerpunktversorgung angewendet werden, um professionelle Anwendung sowie Evaluation zu gewährleisten. Eine wichtige Anforderung an die Implementierung der Präzisionsmedizin in die Praxis ist weiterhin, dass Behandlungsergebnisse lückenlos dokumentiert werden und die angewendeten Algorithmen transparent bleiben. 

Ein weiteres Risiko ist, dass beispielsweise Tumoren auch gegen Präzisionsmedizin – wie gegen alle Therapien – resistent werden können. Thomas Oellerich, der die DKTK-Professur für Translationale Proteomforschung bei Krebs an der Universitätsklinik Frankfurt innehat, erklärt: „Auch bei diesen neuen, modernen Therapien können die Tumoren Wege finden, sie zu umgehen. Die Mikroumgebung des Tumors kann sich verändern oder es können plötzlich Medikamente anders von den Tumorzellen verstoffwechselt werden – und dann wirken diese nicht mehr. Unser Ziel ist daher, optimale Therapiekombinationen zu finden, die es dem Tumor erschweren, solche Resistenzen zu entwickeln.“

KOSTEN

DAS GELD, DAS IN DIESE FORSCHUNG FLIESST, IST LANGFRISTIG ANGELEGT – IN DAS WICHTIGSTE GUT DES MENSCHEN: SEINE GESUNDHEIT.
Eine individuelle Behandlung zu etablieren, ist mit Kosten verbunden, unter anderem für die Entwicklung von Medikamenten. Auch die Diagnostik ist oftmals aufwendiger. So kann Präzisionsmedizin eine zusätzliche Belastung für das Gesundheitssystem darstellen. Gleichzeitig kann sie auch kosteneffizienter sein, wenn Erkrankungen damit gezielter behandelt werden können – weil die Behandlung unter Umständen kürzer ist, schneller oder direkter zum Erfolg führt. Auch weitere Kosten können eingespart werden, zum Beispiel für Arbeitsausfälle, Folgeerkrankungen oder für herkömmliche Medikamente, die bei Einzelnen keine Wirkung zeigen. Laut einer Stellungnahme der Bundesärztekammer überschreitet die Präzisionsmedizin jedoch nach derzeitigem Stand nicht die Grenzen der Finanzierungsfähigkeit des Gesundheitssystems. 

Um Krankheiten genau zu verstehen, braucht es Grundlagenforschung auf molekularer Ebene. Das Geld, das in diese Forschung fließt, ist langfristig angelegt – in das wichtigste Gut des Menschen: seine Gesundheit.

HEUTE

Teilweise sind zielgerichtete Therapien bereits heute Standard: Die chronisch myeloische Leukämie wird beispielsweise fast immer durch eine genetische Veränderung ausgelöst. Sie kann mit Medikamenten behandelt werden. Wird die Erkrankung früh erkannt, sind die Chancen auf Heilung hoch. Auch bei der Behandlung von Lungenkrebs kann nach der Bestimmung molekularer Biomarker teilweise sehr direkt behandelt werden. 

Auch Tumorboards, bei denen Ärztinnen und Ärzte aus verschiedenen Fachrichtungen auf Basis molekularer Informationen Behandlungsmöglichkeiten für Krebs diskutieren, sind in vielen größeren Krankenhäusern schon heute etabliert. Die genomische Profilierung von Tumoren ebenfalls. Andere Methoden, beispielsweise auf Proteinebene, stecken dagegen noch in den Kinderschuhen. Sie werden in der Forschung sowie in klinischen Studien erkundet.
WIR SIND MITTEN IM MOLEKULAREN ZEITALTER ANGEKOMMEN

MORGEN

„Durch das Fortschreiten der molekularen Medizin wird es in den nächsten sechs bis zehn Jahren deutliche Verbesserungen bei Therapie und Diagnostik geben“, erklärt Thomas Oellerich. „Wir sind mitten im molekularen Zeitalter angekommen, es wird fortschreiten und der Großteil der Patienten wird entsprechend behandelt werden.“ Auch Bernhard Küster, Professor am Lehrstuhl für Proteomik und Bioanalytik sowie Prodekan Informationsmanagement an der TU München, DKTK-Partnerstandort München, ist optimistisch: „Bei der Geschwindigkeit, mit der sich die technischen Möglichkeiten in der Medizin entwickeln, wird Präzisionsmedizin in den kommendenzehnJahren für einige der großen Krankheitsbilder zumindest in der universitären Vollversorgung sicher angekommen sein.“ 

Wenn ein Teil der Diagnostik von privatwirtschaftlichen Unternehmen übernommen werden kann, wie das heute beispielsweise bei Laboruntersuchungen von Blut etabliert ist, könnte das die Entwicklung in der Breite fördern. Kuster mahnt jedoch an, dass in dieser Zeit auch die regulatorischen Rahmenbedingungen weiterentwickelt werden müssen. „Datenschutz muss in Zukunft so ausgestaltet sein, dass er uns ermöglicht, die zahlreichen Chancen neuer Technologien und Ansätze zu nutzen. 

Es braucht eine gute Aufklärung der Patientinnen und Patienten über ihre individuelle Behandlung, sie müssen partizipieren und über ihre Daten entscheiden dürfen.“ Die DZG haben eine „AG Patientenpartizipation“ aufgebaut. Stichwort „etablierte Medizin“: Bei allen Chancen, die in der Präzisionsmedizin liegen, dürfe man nicht vergessen, dass die klassische Medizin nicht weniger wertvoll ist: „Sie ist und bleibt das Rückgrat der Versorgung von Patientinnen und Patienten.“
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