SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der DZG
Eine spezielle Gentherapie könnte schon bald jenen Menschen helfen, die an bisher unheilbarer Ataxie leiden. Entscheidende Grundlagen dafür legten Forschende des DZNE in jahrelangen Studien.

Ein Funke Hoffnung

Vor ein paar Jahren noch glichen sich die Geschichten der Patientinnen und Patienten, die in das Sprechzimmer von Thomas Klockgether kamen, bis in die Details: Sie hatten vor einiger Zeit bemerkt, dass sie undeutlicher sprechen, dass ihnen schwindelig wird, dass sie krakeliger schreiben und Schwierigkeiten haben, bei Mahlzeiten ihr Besteck zu halten – und kein Arzt konnte eine Diagnose stellen.

„Sie erzählten mir, dass sie schon bei etlichen Neurologen waren und keiner ihnen habe helfen können", sagt Klockgether. Der Mediziner ist spezialisiert auf Ataxien: ausgesprochen seltene degenerative Erkrankungen des Nervensystems, die sich durch Bewegungsstörungen äußern – und für die es bislang keine Therapie gibt.

Patienten kommen aus ganz Europa

Der medizinische Fortschritt in diesem Bereich ist dennoch beachtlich, und Thomas Klockgether spürt das in seiner täglichen Arbeit. Der 64-Jährige ist zum einen praktizierender Arzt, zum anderen renommierter Forscher. In seiner Sprechstunde am Bonner Uniklinikum kümmert er sich um Patienten, die aus ganz Europa zu ihm ins Rheinland kommen, und am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) ist er als Direktor der Klinischen Forschung in seiner eigenen Arbeitsgruppe den Ataxien auf der Spur.
EINEN STIFT RUHIG ZU FÜHREN, WIRD
IMMER SCHWIERIGER.
„In all den Jahren, die ich mich mit Ataxien beschäftigte, war die Hoffnung auf eine wirksame Therapie noch nie so begründet wie heute", sagt Klockgether mit Blick auf klinische Studien für spezielle Medikamente, die im kommenden Jahr beginnen sollen – Studien, für die er mit seinem Team zu den Wegbereitern zählt.

DEN BETROFFENEN ENTGLEITEN WICHTIGE FUNKTIONEN IHRES KÖRPERS:
IHR SCHRIFTBILD WIRD KRAKELIG, SIE KÖNNEN BESTECK NICHT MEHR RICHTIG HALTEN ODER BEWEGUNGEN WERDEN UNSICHER – HÄNDE UND BEINE „GEHORCHEN" IHNEN NICHT MEHR.
Wer die „spinozerebellären Ataxien" — so ihre vollständige Bezeichnung — richtig verstehen will, sollte auf einen Exkurs zurück in die Vergangenheit gehen. In den 1970er Jahren wunderte sich die medizinische Fachwelt über zwei Familien in den USA: Ihre Mitglieder zeigten zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auffällige Veränderungen in der Motorik. „Machado-Joseph-Erkrankung" nannten die Ärzte damals die Symptome, die scheinbar aus heiterem Himmel auftraten.

Es stellte sich heraus, dass die Familien Nachfahren von Einwanderern aus den Azoren waren. Dort kommt die Krankheit häufiger vor, ihr Ursprung liegt jedoch offenbar in Ostasien, wo sie laut Erbgut-Analysen vor mehreren tausend Jahren entstanden sein muss. Über portugiesische Seefahrer gelangte sie dann auf die Azoren, von wo sie sich weiterverbreitete — nach Amerika, aber auch nach Europa. Neben den belastenden Symptomen bedeutet sie auch, dass die organischen Schäden stetig voranschreiten: Wenn sich die Erkrankung bemerkbar macht, liegt die weitere Lebenserwartung bei 20 bis 25 Jahren.

Nur ein winziger Teil des Erbguts ist fehlerhaft

Im Jahr 1987 kam Thomas Klockgether erstmals mit dem Thema Ataxien in Berührung. Damals arbeitete er in Tübingen. „Zu jener Zeit konnte man leider noch keine vernünftigen Diagnosen stellen, weil keine der Ursachen für Ataxien gefunden waren", sagt er im Rückblick. Inzwischen weiß man, dass Genmutationen dahinter stehen: Ein winziger Teil des Erbguts ist fehlerhaft – und damit nimmt die Krankheit ihren Lauf. „Es gibt nicht nur die eine Ataxie", so Klockgether.

In den 1990er-Jahren war er dabei, als die genetischen Ursachen für die häufigsten der erblichen Ataxien gefunden wurden. SCA 1 – das Kürzel leitet sich aus dem Englischen ab – heißt seitdem im Fachjargon die erste entschlüsselte Ataxie; die früher als „Machado-Joseph-Erkrankung" bekannte Ataxie wird heute SCA 3 genannt. „Inzwischen sind wir bei SCA 48 angekommen", sagt Klockgether – und regelmäßig werden weitere Entdeckungen gemacht.

Der Forschung gab das einen gewaltigen Schub. „Vorher kannte man einzelne Ataxie-Familien und Patienten, aber keine Details. Und auf einmal wussten wir, um welchen genetischen Typus es sich handelt. So konnten wir anfangen herauszuarbeiten, was die klinischen Charakteristika eines bestimmten genetischen Typs sind", sagt Klockgether. Welchen Verlauf nimmt also welche Ataxie? Welche Symptome treten am häufigsten auf? Antworten auf einige dieser Fragen wurden im Laufe der Jahre zusammengetragen.
Ataxie
Ataxien zählen zu den „seltenen Erkrankungen": In Deutschland sind rund 16.000 Menschen betroffen. Es handelt sich um degenerative Erkrankungen des Kleinhirns und des Rückenmarks. Mediziner unterscheiden zwischen erblichen und erworbenen Ataxien – erstere sind seit der Zeugung angelegt, letztere entstehen etwa durch Gifte, Fehlernährung oder Immunmechanismen im Laufe eines Lebens. Die Krankheitsgruppe ist sehr divers: Allein bei den erblichen Ataxien haben Forschende inzwischen 200 verschiedene Genmutationen als Ursache identifiziert und jede von ihnen ruft eine unterschiedliche Krankheit hervor. Sie alle werden zusammengefasst unter dem Sammelbegriff der Ataxie, der sich von dem griechischen Wort für „fehlende Ordnung" ableitet.
ALS WÜRDE DIE TEEKANNE AUF- UND ABSPRINGEN:
MIT ZITTERNDER HAND DEN DECKEL AUFZUSETZEN,
FÄLLT DEN PATIENTINNEN UND PATIENTEN UNHEIMLICH SCHWER.
Und vor allem konnten die Forschenden sich mit dem Wissen um die genetischen Grundlagen auf die Suche nach gezielten Therapien begeben. Ihre Hoffnung ruht heute auf Gentherapie-Ansätzen mit sogenannten Antisense-Oligonukleotiden. Diese Wirkstoffe können bestimmte Bereiche des Erbguts gewissermaßen stumm schalten. Krankmachende Informationen, die darin enthalten sind, sollen so gezielt blockiert werden. Bereits entstandene Schäden werden dadurch zwar nicht behoben, doch die weitere Krankheitsentwicklung könnte sich verlangsamen oder gar unterbrechen lassen, so das Kalkül.

„Entscheidend für eine solche Therapie ist die Vorarbeit", sagt Klockgether. Daran ist er mit seinem Team wesentlich beteiligt: Seit 2005 leitet er großangelegte Studien mit Ataxie-Patienten, um genau herauszufinden, wann sich im Krankheitsverlauf welche Symptome zeigen und wie sich die Krankheit in ihren verschiedenen Stadien in ablesbaren Biomarkern niederschlägt – wie sich also beispielsweise mittels Bluttests etwas über die Erkrankung herausfinden lässt.

Aus seinen Studien kennt die Forschung mittlerweile reihenweise Daten, die für die Entwicklung einer Therapie unerlässlich sind. Und: Weil den häufigsten drei erblichen Ataxien – also SCA 1 bis 3 – die gleiche Art der Genmutation zugrunde liegt, könnte es sein, dass sich der Antisense-Ansatz für die Behandlung aller drei Ataxien eignet. Ein Pharmaunternehmen wird voraussichtlich im Jahr 2021 mit der klinischen Erprobung starten.

„Es gibt zwei gewaltige Vorteile bei der Entwicklung einer Therapie gegen Ataxien", erläutert Klockgether: „Erstens kennt man bei genetischen Krankheiten die Ursache, nämlich das veränderte Gen – das unterscheidet Ataxien von anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie etwa Alzheimer, bei denen man die Ursache bisher nicht genau kennt.

Und zweitens hat der Patient seine Gene von der Zeugung an. Im Grunde lässt sich also schon bei einem Baby sagen, ob die Krankheit eines Tages ausbrechen wird. Ob man das tatsächlich wissen möchte, ist natürlich eine persönliche Entscheidung. Es eröffnet jedoch die Chance auf eine vorbeugende Therapie, sodass sich die Krankheit gar nicht erst entwickelt."

Hoffnung auf erlösende Therapie

Thomas Klockgether formuliert diese Sätze mit größter Vorsicht und betont, dass alle Erwartungen an eine Behandlung oder Vorbeugung derzeit noch spekulativ seien – wie die klinischen Studien verlaufen, das werde sich erst in mehreren Jahren zeigen. Eins aber steht jetzt schon fest: Die Patienten, die heute zu ihm kommen, haben in der Regel keine Odyssee mehr hinter sich, bei der sie lange vergeblich auf eine Diagnose hofften.

Meistens kommen sie sogar schon mit einem konkreten Befund, der nur deshalb möglich ist, weil die Genanalyse inzwischen so weit fortgeschritten ist. Nach wie vor aber wünschen sie sich sehnlich, dass es für sie selbst oder zumindest für ihre Nachfahren eine erlösende Therapie geben wird. Und die ist nun wahrscheinlicher als jemals zuvor.
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