Wenn ein Mensch die ersten Symptome von Alzheimer zeigt, ist die Krankheit bereits lange in seinem Körper aktiv: Schon bis zu 25 Jahre zuvor hat das Gehirn Veränderungen erlebt. Wenn man früher eingreifen könnte, was würde das bedeuten – für die Betroffenen, für ihre Angehörigen, für die Gesellschaft? Forschende der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung (DZG) suchen intensiv nach Möglichkeiten, um Krankheiten frühestmöglich zu erkennen. Bei Alzheimer beispielsweise Spuren im Blut: Biomarker wie die sogenannten Neurofilamente, anhand derer man vorhersagen könnte, wie wahrscheinlich und schnell der Verlust von Neuronen im Gehirn voranschreitet – und damit die Krankheit.
Ausdifferenziert und individuell vorsorgen
Prävention war schon seit der Gründung der DZG ein klarer Auftrag an diese Gemeinschaft. Moderne Gesundheitsforschung will Krankheitsbilder so umfassend verstehen, dass eine möglichst frühe, ausdifferenzierte und individuelle Prävention realisiert werden kann – eine tiefgreifende Prävention, die man auch als „Deep Prevention“ bezeichnen kann. Sie geht über die Vorbeugung von Risikofaktoren oder das Erkennen von Krankheiten im Frühstadium hinaus und berücksichtigt genetische und umweltbedingte Faktoren, um maßgeschneiderte Schritte zur Krankheitsvorbeugung zu ermöglichen. Prof. Dr. Joachim Schultze, Direktor für Systemmedizin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), erklärt: „Die Wissenschaft kann heute eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen und Genetik sowie Umwelteinflüsse in Beobachtungsstudien untersuchen, deren Zusammenspiel verstehen und individuelle Risikoprofile erkennen.“ Mehr Wissen eröffnet neue Möglichkeiten: Betroffene können etwa Gewohnheiten umstellen, gezielte Behandlungen können den Ausbruch einer Krankheit verzögern oder gar ganz verhindern.
Forschende des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) arbeiten gemeinsam mit Helmholtz Munich sowie dem Paul-Langerhans-Institut Dresden an neuen Ansätzen, die den Ausbruch der Autoimmunerkrankung Typ-1-Diabetes verzögern oder gar stoppen sollen. Ein Gentest bei Neugeborenen kann auf ein erhöhtes Erkrankungsrisiko hinweisen, betroffene Familien werden zu Studien eingeladen. Dort werden unter anderem eine Art Immuntraining mit Insulinpulver und der Einsatz eines Probiotikums untersucht. Auch Viren wie SARS-CoV-2 stehen im Verdacht, die Krankheit auszulösen oder zu befördern: Die „Anti-Viral Action against Type 1 Diabetes Autoimmunity“-Studie soll zeigen, ob die Entstehung spezieller Antikörper und damit Typ-1-Diabetes verhindert werden kann, wenn Kinder im Alter von sechs Monaten gegen COVID-19 geimpft werden.
WENN MAN FRÜHER EINGREIFEN KÖNNTE, WAS WÜRDE DAS BEDEUTEN – FÜR DIE BETROFFENEN, FÜR IHRE ANGEHÖRIGEN, FÜR DIE GESELLSCHAFT?

Stabilisierung des Gesundheitssystems
Je klarer ein Krankheitsbild ist, desto besser können erste Anzeichen erkannt und zugeordnet werden. „Wir sehen beispielsweise heute auch bei Menschen unter 65 Jahren häufiger Demenz. Das muss aber nicht bedeuten, dass die Krankheit früher auftritt, sondern dass man sie bei Betroffenen nun eher erkennt." Am DZNE wird zudem an möglichst leicht zugänglichen Diagnosemethoden gearbeitet – wie einem Test, bei dem Biomarker für Demenz aus einem Tropfen Blut gelesen werden können. „Wir erfahren gleichzeitig immer mehr darüber, welche Umweltfaktoren die Erkrankung begünstigen und wie sie etwa durch Alkoholkonsum, hohen Cholesterinspiegel, zu wenig geistige Beschäftigung oder Einsamkeit im Alter beeinflusst wird", so Joachim Schultze. „Mit der Kombination aus der Risikoerkennung und diesem Wissen könnte die Zahl der Menschen, die Symptome entwickeln, deutlich reduziert werden." Das sei keine rein medizinische Herausforderung: „Die Medizinforschung wird das möglich machen können. Aber die Umsetzung ist dann eine gesellschaftliche Aufgabe. Prävention bietet enorme Chancen, doch dieses Bewusstsein muss in uns allen und auch in der Politik verankert sein", mahnt der Experte.
„Deep Prevention“ wirft auch ganz neue Fragen auf, wie in puncto Kosten: „Wenn man beispielsweise weiß, dass jemand das Risiko für eine Erkrankung in sich trägt – steht ihm dann eine mitunter teure Behandlung zu, auch wenn er noch gar keine Symptome zeigt oder sich nicht ausreichend davor schützt? Eine Antikörper-Therapie etwa, die jährlich mehrere Zehntausend Euro kostet? Das ist nicht allein eine Frage der Finanzen, sondern auch eine ethische." Prävention kann gleichzeitig Kosten sparen: Könnte der Krankheitsausbruch von neurologischen Erkrankungen verzögert oder gar verhindert werden, würden weniger Betreuungskosten anfallen. Der Ansatz könnte damit auch eine Hebelwirkung für die Stabilisierung des Gesundheitssystems haben.
Um Prävention umsetzen und vorantreiben zu können, muss sie auch in der Bevölkerung „ankommen". Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), Kernzentrum des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK), und die Deutsche Krebshilfe bauen deshalb ein Nationales Krebspräventionszentrum auf, das exzellente Präventionsforschung mit Aus- und Weiterbildungsangeboten, Öffentlichkeitsarbeit und Politikberatung vereint. Als Piloteinrichtung soll es Strategien, Technologien und interventionelle Maßnahmen zur Prävention und Früherkennung von Krebs entwickeln, optimieren und bewerten. Geplant sind unter anderem Programme, die in lokalen Anlaufstellen deutschlandweit für Bürgerinnen und Bürger leicht erreichbar sind. Laut aktuellen Prognosen wird sich die Zahl der Krebsneuerkrankungen in Deutschland bis 2030 von derzeit rund 500.000 auf 600.000 pro Jahr erhöhen. Gleichzeitig wird geschätzt, dass hier und in anderen hoch entwickelten Ländern rund 40 Prozent aller Neuerkrankungen und bis zu 60 Prozent aller Krebstodesfälle durch Prävention und Früherkennung vermieden werden könnten.
WIR BRAUCHEN EIGENE FORSCHUNG IN DEUTSCHLAND.

Investition in die Forschung
Schultze sieht in der finanziellen Ausstattung der Wissenschaft den Schlüssel für Prävention: „Forschung braucht Geld. Wir können keine gute Prävention möglich machen, wenn wir nicht ausreichend Forschungsgelder dafür haben." Und zwar in realistischen Dimensionen, denn große Themen brauchen eine angemessene Infrastruktur – und Tempo: „Je länger wir es aufschieben, desto mehr werden wir gegenüber anderen abfallen. International sieht man ganz klar, dass Staaten, die in medizinische Forschung investieren, Vorteile haben. In den USA zum Beispiel war das jedenfalls traditionell der Fall. Da freute ich mich als Kollege dann mit, wenn dort etwas Neues gefunden wurde – und fragte mich gleichzeitig, warum wir nicht die Mittel haben, um das genauso umzusetzen." Zumal man Erkenntnisse aus anderen Ländern nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen könne: „Bei Parkinson können wir das, was wir hier in Europa lernen, beispielsweise nicht einfach auf andere Kontinente anwenden – aufgrund unterschiedlicher genetischer Konstellationen, anderer Umweltbedingungen und Lebensstile. Präventionsforschung ist, insbesondere weil sie so eng an Genetik und Umwelt gebunden ist, lokal. Wir brauchen entsprechend eigene Forschung in Deutschland."
Mit der sogenannten Rheinland-Studie untersucht das DZNE seit 2016, welche Faktoren Gesundheit mitbestimmen, was Menschen krank macht und was sie gesund hält. Die Studie ist eines der weltweit größten und innovativsten Projekte ihrer Art. „Aktuell können die ersten Krankheitsverläufe beobachtet werden und wir fangen an zu erkennen, was man bei welchen Patientinnen und Patienten hätte tun können, um einer Erkrankung vorzubeugen oder deren Verlauf zu mildern", so Schultze. „Kommende Generationen werden davon profitieren."