Mit den Waffen des Immunsystems
Text: Joachim Pietzsch
Weit fortgeschritten war der Lungenkrebs der 61-jährigen Patientin, die sich 2013 bei Martin Reck in der LungenClinic Grosshansdorf vorstellte. Eine erste Chemotherapie wirkte ungefähr ein Jahr lang, eine zweite weitere anderthalb Jahre. Dann ließ sich das metastasierte Geschwür nicht mehr aufhalten. „Die Patientin hatte mit herkömmlichen Mitteln keine Perspektive mehr. Wir konnten ihr aber eine Immuntherapie anbieten“, sagt Martin Reck. „Heute ist die Frau 68 Jahre alt und merkt nichts mehr von ihrer Erkrankung.“ Das ist ein Einzelfall, doch in internationalen klinischen Studien zur medikamentösen Behandlung von Lungenkrebs häufen sich ähnliche. „Wir kommen in eine völlig neue Kategorie der Nachbeobachtung, weil immer mehr Patientinnen und Patienten viele Jahre mit einer stabilen Erkrankung leben.“ Das ist zwei Klassen von Medikamenten zu verdanken: zielgerichteten Therapien, die einen Tumor an spezifischen Mutationen angreifen, mit denen er sein Wachstum vorantreibt, und Therapien, welche die Waffen des Immunsystems schärfen und dem Tumor die Tarnkappe entreißen, mit der er die körpereigene Abwehr zu unterlaufen versucht.
Mutationen im Visier
Das erste zielgerichtete Medikament zur Behandlung von Lungenkrebs wurde 2009 zugelassen. Es blockiert einen Rezeptor in der Membran der Krebszelle, der Wachstumssignale in deren Inneres vermittelt. Weil es ein kleines Molekül ist, das nicht von Verdauungssäften zersetzt wird, kann es oral eingenommen werden. Die Patientinnen und Patienten müssen also zur Behandlung nicht in die Klinik kommen. Das Medikament hat zudem weniger Nebenwirkungen als ein Chemotherapeutikum, welches auch die Teilung gesunder Körperzellen hemmt. Es wirkt aber nur, wenn dieser Rezeptor durch eine Mutation dauerhaft aktiviert ist. „10 bis 15 Prozent aller Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs haben eine Mutation, die sich mit einer zielgerichteten Therapie sehr erfolgreich behandeln lässt“, sagt Martin Reck. „Für die anderen kommt jetzt das neue Prinzip der Checkpoint-Inhibition zum Tragen.“
DAS ERSTE ZIELGERICHTETE MEDIKAMENT ZUR BEHANDLUNG VON LUNGENKREBS WURDE 2009 ZUGELASSEN.
Gegen ein gefährliches Gleichgewicht
Checkpoints sind Kontrollstellen, die unsere Immunreaktionen im Gleichgewicht halten. Sie ankern in der Membran von T-Lymphozyten, die virusinfizierte Zellen ebenso zerstören wie Tumorzellen. Nach vollendetem Angriff binden bestimmte Botenstoffe des Immunsystems über solche Checkpoints an diese T-Zellen, was deren programmierten Selbstmord auslöst und damit verhindert, dass sie gesundes Gewebe attackieren. Manchmal werden die bremsenden Checkpoints aber zu früh aktiviert. Dann entwickelt sich aus einzelnen Krebszellen, die das Immunsystem normalerweise zuverlässig eliminiert, ein Tumor. Tückischerweise sind viele Tumoren dann selbst in der Lage, Botenstoffe zu bilden, die T-Zellen an deren Checkpoints ausknipsen. Dass die Hemmung der Checkpoints durch monoklonale Antikörper der Krebstherapie eine neue Perspektive eröffnet, wurde Mitte der 1990er-Jahre entdeckt. Erstaunlicherweise zeigte die pharmazeutische Industrie zunächst kaum Interesse daran. Es ist der Hartnäckigkeit der Grundlagenforschenden, die 2018 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurden, zu verdanken, dass die Checkpoint-Inhibition dennoch zu einem Hoffnungsträger geworden ist. Zur Behandlung von Lungenkrebs sind seit 2014 vier Checkpoint-Inhibitoren zugelassen worden, zwei davon blockieren den Programmed-Death-Checkpoint PD-1, zwei den an ihn bindenden Botenstoff PD-L1.
DANN ENTWICKELT SICH AUS EINZELNEN KREBSZELLEN, DIE DAS IMMUNSYSTEM NORMALERWEISE ZUVERLÄSSIG ELIMINIERT, EIN TUMOR.
Verdopplung des Fünf-Jahres-Überlebens
ERFOLGE AUCH BEIM BÖSARTIGEN
KLEINZELLIGEN KARZINOM
„Von den 650 Patienten, die wir hier jährlich neu mit Lungenkrebs diagnostizieren, befinden sich etwa 400 in einem fortgeschrittenen Stadium“, sagt Reck. „300 davon behandeln wir mit einer Immuntherapie oder einer Kombination aus Immun- und Chemotherapie.“ So viele Patienten mit Lungenkarzinomen behandeln die großen Krebszentren meist nicht. Die LungenClinic Grosshansdorf hat früh eine spezialisierte Abteilung für Thoraxonkologie und ein dichtes internationales Netzwerk aufgebaut, sodass Reck und sein Team eine führende Rolle in klinischen Prüfungen der neuen Immuntherapien spielen. Dabei beobachten sie sogar gegen das besonders bösartige kleinzellige Karzinom bemerkenswerte Erfolge. „Seit über 20 Jahren sehen wir dabei in Kombination mit einer Chemotherapie erstmals eine Verbesserung der Therapie.“ Noch deutlicher wird das Potenzial von Immuntherapien bei Patienten mit einem metastasierten nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC), deren Tumoren den Botenstoff PD-L1 ausschütten. Das zeigen die Ergebnisse der ersten Langzeitstudie mit einem PD-1-Inhibitor als Erstlinientherapie, die Reck im Herbst 2020 beim europäischen Krebskongress präsentierte. Fünf Jahre nach Beginn der Behandlung lebten demnach noch 31,9 Prozent der 154 mit diesem Präparat behandelten Patienten – fast doppelt so viele wie in der Vergleichsgruppe der 151 mit einer Chemotherapie behandelten Patienten, die eine Überlebensrate von 16,3 Prozent aufwiesen.
CHECKPOINT-INHIBITOREN SIND VIEL BESSER VERTRÄGLICH.
Gut verträglich, aber teuer
„Checkpoint-Inhibitoren sind viel besser verträglich als Chemotherapien“, sagt Martin Reck. „Bei ungefähr einem Drittel der Patientinnen und Patienten tritt allerdings eine neue Klasse von immunassoziierten Nebenwirkungen auf, vor allem Entzündungen der Leber, des Darms und der Schilddrüse.“ Bei den meisten Betroffenen verlaufen diese Entzündungen moderat. Zusammen mit einer Chemotherapie verlangt eine Immuntherapie den Patientinnen und Patienten jedoch viel ab. „Da kombinieren wir zwei Nebenwirkungsspektren miteinander und müssen sehr darauf achten, dass es den Behandelten gut geht.“ Zudem kostet die Therapie rund 100.000 Euro jährlich – eine für die Belastbarkeit des Gesundheitssystems grenzwertige Summe, räumt Martin Reck ein. Er hofft jedoch auch auf eine kontinuierliche Senkung der Behandlungskosten.
IMPFUNGEN WERDEN HÖCHSTENS IN
EINEM FRÜHEN STADIUM HELFEN.
Resistenzen beschränken Wirksamkeit
Trotz aller Erfolge: Ein Wundermittel sind Checkpoint-Inhibitoren nicht. „Bei etwa 25 Prozent aller Patientinnen und Patienten wirken sie auch über Jahre gut.“ Viele Lungenkrebspatientinnen und -patienten sprechen aber überhaupt nicht auf sie an, ihre Tumoren sind gegen eine Immuntherapie primär resistent. Andere reagierten zwar anfangs gut, nach etwa einem Jahr wachse ihr Tumor aber weiter. Laut Reck laufen mehr als 500 Studien weltweit, zum Beispiel zur Kombination mit zielgerichteten Medikamenten oder Hemmstoffen der Gefäßneubildung im Tumor. Der Mediziner ist skeptisch, inwiefern andere Immuntherapien die Checkpoint-Inhibition ergänzen können. Mehrere mRNA-Impfstoffe würden derzeit klinisch geprüft, bisher hätten jedoch alle Impfstrategien beim Lungenkrebs versagt. „Wenn überhaupt, dann werden mRNA-Vakzine eher in einem frühen Lungenkrebsstadium helfen.“ Aber wer weiß, welche Überraschungen die Zukunft bereithält. Als Martin Reck vor 25 Jahren begann, Lungenkrebs zu therapieren, hätte er sich schließlich auch nicht träumen lassen, welche Fortschritte er erleben würde: „Von zehn Patientinnen und Patienten, die sich mit einem fortgeschrittenen Lungenkarzinom vorstellten, lebte damals nach einem Jahr noch eine oder einer, heute sind es vier bis fünf.“