SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der DZG

Nicht zu viel und nicht zu wenig

Die Radioonkologiegruppe (ROG) vom Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK) erforscht, wie man die Strahlentherapie von Kopf-Hals-Tumoren anhand von Biomarkern für die einzelnen Patienten so genau wie möglich anpassen kann. Annett Linge ist seit Anfang an dabei und erklärt, wie die klinische Forschung einen entscheidenden Unterschied für die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten bringt.
FÜR IHN WAR EINE DER WICHTIGSTEN FRAGEN, OB ER SEINEN BERUF WEITERHIN AUSÜBEN KÖNNE.
Jede Patientin und jeder Patient ist gleich wichtig“, sagt die Privatdozentin Annett Linge, Clinician Scientist am Universitätsklinikum der Technischen Universität Dresden und im DKTK, „und muss individuell betreut werden.“ Trotzdem denkt sie an einzelne Schicksale immer wieder zurück. Zum Beispiel an einen Mann Ende 40, der als Bildhauer arbeitete und die Diagnose Oropharynxkarzinom bekam – Krebs im Mundrachenraum. Er stand mitten im Leben, die Krebsdiagnose stellte für ihn wie für viele anderen Patientinnen und Patienten alles auf den Kopf. Die Behandlung ging Schlag auf Schlag: operative Entfernung des Tumors, Bestrahlung, später Physiotherapie.

Für ihn war eine der wichtigsten Fragen, ob er seinen Beruf weiterhin ausüben könne. Der Kopf-Hals-Bereich ist sehr sensibel, dort laufen viele Nervenstränge zusammen. Durch die Bestrahlung können Rückenmark, umliegende Nervenstränge und Speicheldrüsen geschädigt werden. Wird der Bildhauer dann zwar den Krebs besiegt haben, aber seine Arme nicht mehr heben und nicht mehr lange mit seinen Werkzeugen arbeiten können? Andererseits: Fällt die Dosis der Bestrahlung zu gering aus, könnten resistente Krebszellen, sogenannte Krebsstammzellen, überleben und es könnte ein Rezidiv entstehen. Eine echte Gratwanderung – die jedoch einen großen Unterschied für das Leben des einzelnen Patienten oder der einzelnen Patientin macht.

Seit zehn Jahren forscht die DKTK-Radioonkologie-Gruppe (ROG) an der Optimierung der Strahlentherapie für Patientinnen und Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren (head and neck squamous cell carcinoma: HNSCC) unter Berücksichtigung ihrer individuellen Tumoreigenschaften. Nur jene Patientinnen und Patienten mit einem weit fortgeschrittenen Krebsstadium werden aufgenommen. Zu den Kopf-Hals-Tumoren zählen Mundhöhlenkarzinome, Oropharynxkarzinome im Mund-Rachenraum sowie Hypopharynxkarzinome. Letztere sind bösartige Tumore, die in der Schleimhaut des unteren Schlundbereichs entstehen, daher spricht man auch von Schlundrachenkrebs.
DIE DOSIS SOLL DABEI IM UMLIEGENDEN GEWEBE MÖGLICHST GERING AUSFALLEN, DAMIT DIESES WENIG GESCHÄDIGT WIRD UND KEINE SCHWERWIEGENDEN NEBENWIRKUNGEN ENTSTEHEN.

Schritt für Schritt zur optimalen Bestrahlung

Seit 2012 läuft in Zusammenarbeit mit den sieben anderen DKTK-Standorten das Projekt „Strahlenbiologisches Profiling für die biochemisch stratifizierte Radiochemotherapie von HNSCC“. Annett Linge ist seit Anfang an dabei. 2014 starteten zwei prospektive Studienarme, um die früher identifizierten Biomarker zu validieren, mit denen man die Strahlenempfindlichkeit der einzelnen Tumore vorhersagen und die Strahlentherapie entsprechend anpassen kann. Der nächste Schritt ist eine Interventionsstudie, um die neue Biomarker-Signatur mit dem aktuellen Standard zu vergleichen und beispielsweise die Strahlendosis individueller anzupassen. Jede Patientin und jeder Patient soll so einen noch persönlicheren Bestrahlungsplan bekommen als heute schon üblich: Die Dosis soll dabei im umliegenden Gewebe möglichst gering ausfallen, damit dieses wenig geschädigt wird und keine schwerwiegenden Nebenwirkungen entstehen – und im Tumor so hoch, dass auch die Krebsstammzellen effektiv abgetötet werden und kein Rückfall droht.

Biomarker sind Parameter biologischer Prozesse, anhand derer Spezialisten vorhersagen können, ob jemand potentiell an Krebs erkranken wird oder ob dieser nach einer erfolgreichen Operation oder Bestrahlung wiederkehren wird. In der ersten retrospektiven Studienphase identifizierte das Team der DKTK ROG bestimmte Biomarker. Entscheidend sind zum Beispiel die Größe und Lage des Tumors, die Anzahl der Krebsstammzellen, die Sauerstoffversorgung des Tumors und die Immunantwort des Patienten: „Sehen wir in der molekularen Analyse, dass der Tumor hypoxisch ist, also schlecht mit Sauerstoff versorgt wird, wissen wir, dass er resistenter ist als andere Tumore – dann müssten wir die Strahlendosis erhöhen“, erklärt Linge.
FÜR DIE PATIENTEN MACHT ES EINEN
RIESIGEN UNTERSCHIED.

Die Forschung hat die Behandlung der Patienten bereits verbessert

Auch der HPV-Status ist ein wichtiges Kriterium: Dieser Virustyp – das häufig vorkommende humane Papillomavirus (HPV) – ist neben Alkohol und Rauchen ein Risikofaktor für Krebsarten im Mund- und Rachenraum, insbesondere für Oropharynxkarzinome. Tumore, die davon beeinflusst werden, sprechen aber auch extrem gut auf die Bestrahlung an: „Wissen wir, dass die Tumore auf eine HP-Virusinfektion zurückzuführen sind, können wir die Strahlendosis senken – im ersten Schritt der Interventionsstudie machen wir das für HPV-positive Oropharynxkarzinome um etwa zehn Prozent“, erklärt Linge. „Das hört sich erstmal nicht viel an. Für die Patienten macht es aber einen riesigen Unterschied: Sie sind etwa drei Tage früher mit der Therapie fertig.“ Und gerade die letzten Tage der Bestrahlung sind meist die heftigste Zeit, in der die Patienten kaum etwas essen können und starke Nebenwirkungen spüren. Wird die Therapie also verkürzt und der Krebs kann trotzdem in Schach gehalten werden, bedeutet das für die Betroffenen einen großen Gewinn an Lebensqualität. In der Vergangenheit wurde diese Patienten-Gruppe oft übertherapiert – mit entsprechend hohen Nebenwirkungen und Langzeitschäden. Für Menschen, bei denen der Krebs aufgrund von strahlenresistenteren Tumoren zurückkehrt, entwickelt das Team ebenfalls individuell angepasste Bestrahlungspläne.

Die Biomarkerstudien sind ein Leuchtturmprojekt in Sachen nationaler Zusammenarbeit, denn nur durch sie wurden genug Patientinnen und Patienten für die Forschung gefunden. Alle DKTK-Standorte ergänzen sich mit ihren Kompetenzen: Dresden bereitet Biomaterial wie zum Beispiel RNA und DNA aus den Tumorproben der jeweiligen Patienten standardisiert auf und schickt sie an die anderen Forschungszentren, sodass alle dasselbe Ausgangsmaterial vorliegen haben und die Ergebnisse perfekt vergleichbar sind. Außerdem kümmern sich die Dresdner Experten z.B. um die Bestimmung des HPV-Status, die Identifizierung der Krebsstammzellmarker, die Hypoxie und das Volumen der Tumore. Frankfurt hat sich auf die Immunmarker spezialisiert, Essen schaut sich „Single Nucleotide Polymorphisms“ (kurz: SNPs) an, die Aussagen über die Veranlagung für Erkrankungen wie Krebs enthalten. Heidelberg hat sich auf Methylomanalysen, München und Freiburg auf microRNA-Analysen spezialisiert. In Tübingen erfolgt die Analyse des Tumormikromilieus und Berlin beschäftigt sich mit der Tumormutationslast.

Zehn Jahre mit Leidenschaft für die Krebsforschung

Annett Linge ist in Dresden von Anfang an dabei. Nach ihrer studienbegleitenden Doktorarbeit in der Anatomie und einem dreijährigen Forschungsaufenthalt in Dublin ist sie in die Biomarkerforschung für die Stratifizierung von Patientinnen und Patienten für die individualisierte Strahlentherapie im DKTK eingestiegen. „Eine unglaublich spannende Aufgabe, die mich jeden Tag begeistert“, sagt Linge. Parallel schloss sie ihre Weiterbildung zur Fachärztin für Strahlentherapie ab, ihre Habilitation schrieb sie bereits zur biomarkergestützten Strahlentherapie. Ihrer Familie und ihren Freunden muss sie schon etwas ausführlicher erklären, was genau sie da jeden Tag macht – so komplex ist das Thema. „Doch alle sind fasziniert, wenn ich berichte, wie viel von unserer Forschung bereits umgesetzt wird und den Patienten, zunächst im Rahmen klinischer Studien, zugutekommt.“

Schon heute wird in der Radioonkologie der HPV-Status untersucht und zum Beispiel im Rahmen der ersten Interventionsstudie der DKTK-ROG (DELPHI-Studie) daraus die Therapie abgeleitet. In Zukunft könnte die Bestrahlung von strahlenresistenteren Tumoren für ausgewählte Patientinnen und Patienten beispielsweise zielgerichtet dosiseskaliert oder mit einer Immuntherapie kombiniert werden, um noch bessere Ergebnisse zu erzielen. Bei der Dosiseskalation wird eine höhere Gesamtdosis appliziert als bei dem konventionellen Therapieplan. „Wir wollen neue Therapiewege gehen, um die Behandlung – soweit erforderlich – zu intensivieren und den Tumor besser unter Kontrolle zu bekommen.“ Auch könnte die Kontrolle nach der Erkrankung aufgrund von Biomarkern individuell angepasst werden – engmaschiger bei einem wahrscheinlichen Rezidiv und etwas lockerer bei einem unwahrscheinlichen Rückfall. Das minimiert die Risiken, die zum Beispiel mit einer erneuten Strahlenbelastung durch eine CT-Untersuchung verbunden sind.
EINE UNGLAUBLICH SPANNENDE AUFGABE, DIE MICH JEDEN TAG BEGEISTERT.
Annett Linge betreut heute die klinische Seite des Projekts und steht dabei auch in engem Kontakt zu Patientinnen und Patienten vor, während und nach der Therapie. Hier begegnete ihr auch der an Krebs erkrankte Bildhauer. Im Tumorboard, einer Expertenrunde aus behandelnden Chirurgen, Onkologen, Radiologen und Radioonkologen, wurde entschieden, dass der Mann für die auf dem HPV-Status basierte Biomarker-Studie zur Dosis-Deeskalation in Frage kommen würde. Bei der Operation wurde der Tumor aus dem Mund-Rachenraum entfernt, der HPV-Status in der zentralen Pathologie in Dresden detailliert untersucht. Dem Patienten wurde Blut entnommen, um daran eventuell in Zukunft Untersuchungen durchführen zu können. Der HPV-Nachweis im Tumorgewebe bestätigte sich, sodass der Patient eine dosisreduzierte Strahlentherapie erhalten konnte. Bald danach begann er mit Physiotherapie. Nach einigen Monaten konnte er in seinen Beruf zurückkehren und heute wieder in seiner Werkstatt neue Skulpturen erschaffen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit – das kann das Biomarker-Team ebenfalls sagen – ist er geheilt und der Krebs wird nicht zurückkehren.
ALLE SIND FASZINIERT, WENN ICH BERICHTE, WIE VIEL VON UNSERER FORSCHUNG BEREITS UMGESETZT WIRD UND DEN PATIENTEN, ZUNÄCHST IM RAHMEN VON KLINISCHEN STUDIEN, ZUGUTE KOMMT.
ANNETT LINGE
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