SYNERGIE – Forschen für Gesundheit
Das Magazin der DZG

Passgenau gegen Tuberkulose

Als Ewgenij vor mehr als zwei Jahren aus der Ukraine floh, hatte er den Tod vor Augen. Nicht als Folge des Krieges in seiner Heimat; der 35-Jährige leidet viel­mehr unter einer multi­resistenten Tuber­kulose. „Wenn einem Mann gesagt wird, dass er stirbt, ist es egal, wohin er geht“, sagt Ewgenij. Mit 22 Jahren hatte er sich angesteckt. Die in der Ukraine verfüg­baren Arzneien konnten ihm zuletzt nicht mehr helfen. „Es ging mir schlecht, ich konnte nur mit Mühe gehen und eine halbe Treppe hinauf­steigen“, erinnert er sich. Auf aben­teuerlichen Wegen ge­langte er dennoch bis zum Forschungs­zentrum Borstel nördlich von Hamburg, das Mitglied im Deutschen Zentrum für Infektions­forschung (DZIF) ist. Dort wird er intensiv be­handelt. In der Klinik arbeitet unter Leitung des medi­zinischen Direktors Prof. Christoph Lange die inter­nationale Elite der Tuberkulose­forschung. Die Wissen­schaft­lerinnen und Wissen­schaftler sind vor allem auf multiresistente Tuberkulose­erreger spezialisiert, jene Bakterien also, gegen die Anti­biotika teils nicht mehr helfen, weil sie wider­standsfähig geworden sind. „Ewgenij ist der Mann mit der wahr­scheinlich resistentesten Tuber­kulose, die es derzeit weltweit gibt“, sagt Lange und fügt leise an: „Wenn wir ihn nicht hier be­handeln würden, wäre er schon gestorben.“
DER TUBERKULOSE-ERREGER WIRD WIE SARS-COV-2 ÜBER DIE ATEMLUFT ÜBERTRAGEN.

Weltweit gefährlichste Infektionskrankheit

Die Tuberkulose ist – wenn man aktuell von COVID-19 absieht – die weltweit gefährlichste Infektions­krankheit. 2020 fielen ihr 1,5 Millionen Men­schen zum Opfer. „Es ist eine armuts­assoziierte Erkrankung“, so Christoph Lange. In Indien, China und Ost­europa kommt Tuber­kulose viel häufiger vor als im reicheren Zentral­europa. Verur­sacht wird sie durch ein stäbchen­förmiges Bak­terium: Mycobacterium tuberculosis. Dieses wird wie das aktuelle Corona­virus über die Atem­luft übertragen. Das Bakterium ist aber „konser­vativ und träge“, beschreibt Lange. Wenn es trotzdem die Ober­hand über die körper­eigene Abwehr gewinnt, zehrt die Er­krankung den Körper regel­recht aus. Die Betroffenen verlieren im fort­geschrittenen Stadium immer weiter an Gewicht, deshalb heißt Tuber­kulose im Volksmund auch „Schwind­sucht“. Wird die Krank­heit nicht behandelt, steht am Ende dieses schweren Verlaufs oft der Tod. Seit den 1960er-Jahren konnte die Infektion in den westlichen Ländern mit Anti­biotika und einem Impf­stoff zurückgedrängt werden. Nun gibt es aber immer mehr resistente Varianten. „Der beste Weg, Resistenzen zu brechen und ihrer Entstehung vorzubeugen, ist die Präzisions­medizin“, sagt Lange. „Wir entwickeln sie hier, wollen sie aber auch für ärmere Länder verfügbar machen.“ Und er fügt hinzu: „Die enge Zusammen­arbeit von Forschenden mit Ärztinnen und Ärzten der Klinik in Borstel ist der Schlüssel zum Erfolg.“

Vier Säulen für erfolgreiche Therapie

Vier Säulen müsste diese Präzisions­medizin nach Langes Meinung umfassen: Das sind ein Resistenz­check, Tests auf die Therapie­dauer, die richtige Wirkstoff­dosis sowie den Immun­status. Beim Resistenz­check soll genau bestimmt werden, welche Ver­änderungen in der Erbsubstanz der Tuberkulose­erreger vorliegen, die Antibiotika­resistenzen verursachen. Klassische Zellkultur­tests dauern Monate, da die Bak­terien sehr langsam wachsen. Wissen­schaft­lerinnen und Wissen­schaftler am Forschungs­zentrum Borstel haben das Erbgut von Tausenden Tuberkulose­bakterien durchforstet. So entstand ein Katalog der Gen­veränderungen, die eine Antibiotika­resistenz vorhersagen. Auf Basis dieses Katalogs können die Forscher in kurzer Zeit vorhersagen, welche Arzneien wirken und welche nicht. „Das ist sehr genau. Unter hundert Medi­kamenten hat man nur einen Fehler“, betont Lange. 

Die Tuberkulose­therapie kann sehr lange Zeit beanspruchen: Bei gewöhnlichen Erregern schlucken die Be­troffenen sechs Monate lang Anti­biotika. In den ersten zwei Monaten vier Präparate, danach zwei. Jeden Tag. Sind die Bakterien resistent, müssen sie die Arzneien gemäß einer WHO-Empfehlung sogar andert­halb Jahre lang einnehmen. „Wir gehen aber davon aus, dass etliche die Medi­kamente früher absetzen könnten, ohne einen Rück­fall zu bekommen“, sagt Lange. Das wäre eine starke Ent­lastung, denn die Anti­biotika verursachen mitunter schwere Neben­wirkungen: Patien­tinnen und Patienten werden taub, bekommen Herz­rhythmus­störungen oder entwickeln ein Nieren­versagen.

Das Therapieende bestimmen

Den Zeit­punkt zu bestimmen, an dem keine Medi­kamente mehr nötig sind, war bisher nicht möglich. Die Bakterien sind häufig nach wenigen Monaten der Behandlung im Aus­wurf der Patientinnen und Pa­tienten nicht mehr zu finden. „Sie können jedoch über­wintern. Wenn wir die Therapie zu früh beenden, kommen sie zurück“, erklärt Christoph Lange. Deshalb erarbeitete er gemeinsam mit For­schenden des DZIF und des Deutschen Zentrums für Lungen­forschung (DZL) in Borstel und Lübeck seit 2015 eine Methode, mit der die notwendige Dauer der Be­handlung vorhergesagt werden könnte. Ihr Ansatz: Die Zellen des Patienten geben Auf­schluss darüber, wann er geheilt oder noch latent krank ist. In den Blut­zellen befinden sich Abschriften der Gene – kleine RNA-Fragmente, ungefähr 45.000 davon kann man im Blut mit einem Test­verfahren nachweisen. Sie verraten gleichsam dem Dienst­plan in einer Fabrik, was gerade in der Zelle passiert. An 50 Patienten mit nicht-resistenter Tuber­kulose und 30 Patienten mit multi­resistenter Tuber­kulose konnten die DZIF-Forschenden 22 RNA-Frag­mente herausfiltern, die mit dem Status der Tuberkulose­infektion in Beziehung stehen. Diese Signatur der 22 Frag­mente verrät ihnen, ob der oder die Betroffene die Er­krankung hinter sich ge­lassen hat oder noch nicht ganz über den Berg ist.
EINE NEUE METHODE SOLL ES MÖGLICH MACHEN, DIE NOTWENDIGE BEHANDLUNGS­DAUER VORHER­ZUSAGEN.
In schweren Fällen kann die The­rapie indi­viduell ge­steuert werden, indem die Antibiotika­spiegel im Blut bestimmt (Wirkstoff-Kon­trolle) und die Medi­ka­mente so hoch dosiert wer­den, dass sie auch bei Resistenzen des Bakterien­stamms noch Wirkung zei­gen. Das dar­gestellte Schema zeigt, dass der Pa­tient täglich sieben Medi­ka­mente einnehmen muss, wo­bei die Dosis sich im Laufe der Monate ge­steigert hat (von Grün bis Dunkelrot). Ein Rück­fall nach etwa zwei Jahren brachte den Pa­tienten erneut in die Klinik.
Lange und sein Team prüften die Vorher­sage an 60 weiteren Patientinnen und Patienten mit Antibiotika-empfindlicher Tuberkulose und mit multi­resistenter Tuber­kulose. Und noch einmal an 52 weiteren Pa­tientinnen und Patienten mit multi­resistenter Tuberkulose, um ganz sicher zu gehen, dass die Ergeb­nisse stimmen. „Die Signatur sagt uns ziemlich gut vorher, wann man mit der Therapie aufhören kann. Bei den meisten lag dieser Zeit­punkt zwischen 12 und 20 Monaten“, berichtet der Infektiologe. Wenn sich der Test auf Therapie­dauer in einer weiteren Studie bewährt, könnte er in wenigen Jahren zum Standard werden. Eine deutsche Firma entwickelt derzeit ein Gerät von der Größe einer Kaffee­maschine, mit dem sich die Signatur aus dem Blut auslesen ließe.

„Die Menschen sind nicht alle gleich“

Bei Ewgenij hätten diese beiden Säulen der Präzisions­medizin allerdings nicht genügt. Seine Myko­bakterien sind gegen alle verfügbaren Anti­biotika resistent − bis auf eine Gruppe. Um die Erreger zu eliminieren, sind aber vier Arzneien aus möglichst verschiedenen Gruppen nötig. Normaler­weise bekommen Patientinnen und Patienten dann eine festgelegte, immer gleiche Dosis. „Aber die Menschen sind nicht alle gleich“, so Lange. Die Medikamente werden in unterschiedlichem Umfang auf­genommen und der Stoffwechsel baut die Arzneien unterschiedlich schnell ab. In Borstel haben die DZIF-Wissenschaftlerinnen und -Wissen­schaftler eine neue Methode entwickelt, um die Wirkstoff­spiegel aller Medikamente im Blut zu erfassen. „Wir messen das bei unseren Patienten. Die medi­zinischen Mikro­biologen am Nationalen Referenz­zentrum für Mykobakterien in Borstel informieren uns, wie viel Wirkstoff es im Labor braucht, um einen Bakterien­stamm umzubringen. Dem­entsprechend dosieren wir jedes Medikament indivi­duell. Deshalb bekommt Ewgenij zum Beispiel die vierfache Dosis eines Medi­kamentes und von einer weiteren Arznei das Dreifache der üblichen Menge.“

Noch etwas fiel den For­scherinnen und Forschern am DZIF bei ihren Tuberkulose-Patientinnen und -Patienten auf. Deren Immun­system reagiert individuell sehr unter­schiedlich auf die Bakterien. „Manche haben zu wenig Immunität und werden von der Infektion überrollt, andere reagieren so heftig auf die Infektion, dass die überschießende Immunantwort den größten Schaden anrichtet“, sagt Lange. Aktuell arbeitet seine Forschungs­gruppe an einem Konzept, das die individuelle Körper­abwehr mit einbezieht und damit eine vierte Säule bilden kann.

Lebensbedrohliche Resistenzen vermeiden

Die Umsetzung der vier Prinzipien der Präzisions­medizin würde verhindern, dass fortlaufend neue, lebens­bedrohliche Resistenzen der Tuber­kulose auftreten. „In der Ukraine gibt man beispielsweise einfach fünf Medi­kamente, die gerade verfügbar sind. Sind die Bakterien des Patienten aber schon gegen drei davon resistent, ohne dass der Arzt das weiß, züchtet man sich Re­sistenzen gegen das vierte und fünfte Medi­kament“, bedauert Lange. Mensch­liches Handeln macht auf diese Weise unbe­absichtigt die Erfolge der Medizin zunichte.

Ewgenij harrt weiter im Forschungs­zentrum Borstel aus und hofft auf Heilung. Zuhause warten seine Mutter und seine Frau auf ihn. „Ich möchte noch Kinder“, sagt er. Um fit zu sein für den Tag, an dem er wieder unter Menschen gehen darf, trainiert er dis­zipliniert seinen Körper. Die Ärzte und Forscher um Christoph Lange wagen keine Prognose, denn Ewgenijs Fall ist sehr kompliziert. Die Bakterien waren schon fast ein Jahr lang verschwunden, ehe sie wieder­kamen. „Er ist ein junger Mann und wir geben alles“, erklärt Lange. Im Moment sind bei diesem Patienten die tückischen Tuberkulose-Stäbchen unter dem Mikroskop wieder nicht mehr zu sehen. Aber es muss so bleiben, damit Ewgenij endlich in das Haus einziehen darf, das sich seine Frau in der Ukraine schon als künftiges Zuhause für sie beide und ihre zukünftige Familie ausgesucht hat.
DIE BAKTERIEN WAREN SCHON FAST EIN JAHR LANG VERSCHWUNDEN, EHE SIE WIEDERKAMEN.
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