Hungrig oder satt? Die Antwort auf diese Frage hängt von mehreren Umständen ab, unter anderem davon, wie lange die letzte Mahlzeit zurückliegt, wie viel wir uns seither bewegt haben und wie unser Körper generell mit Nährstoffen umgeht. Vermittelt wird das Sättigungsgefühl auch von Darmhormonen, die unablässig unseren Stoffwechsel beobachten und sich übers Blut mit dem Gehirn darüber austauschen, was als Nächstes zu tun ist. Ist dieser Austausch fehlerhaft, nehmen die betroffenen Personen an Gewicht zu und haben ein erhöhtes Risiko für die Stoffwechselerkrankung Diabetes Typ 2. Stark mehrgewichtigen Menschen mit einem Body-Mass-Index über 35 half bislang oft nur eine operative Magenverkleinerung. Mit einer neuen Klasse von Medikamenten lassen sich nun ähnlich starke Gewichtsreduktionen erreichen: Die Polyagonisten binden vermehrt an die Rezeptoren für GLP-1 und GIP im Gehirn und verstärken somit das Sättigungsempfinden. Die Ergebnisse sind so überzeugend, dass nun ein erster Vertreter dieser neuen Substanzklasse in den USA und Europa für die Behandlung von Typ-2-Diabetes zugelassen wurde.
Die Grundlage zur Entwicklung von Polyagonisten hat der Münchner Neuroendokrinologe und wissenschaftliche Geschäftsführer am Helmholtz Munich Professor Matthias Tschöp gelegt, gemeinsam mit dem amerikanischen Pharmakologen Professor Richard DiMarchi. Die Zusammenarbeit der beiden Wissenschaftler begann 1999 in der Postdoc-Zeit von Matthias Tschöp bei einem Pharmaunternehmen in den USA: „Damals war mit Leptin gerade das erste Hormon entdeckt worden, das den Appetit und das Körpergewicht reguliert. Wir haben dann den Gegenspieler dazu gefunden, das Hunger-Hormon Ghrelin, und erkannt, dass die Ursachen für Adipositas und Typ-2-Diabetes auch im Gehirn liegen können. Uns wurde klar: Wenn wir effektive Medikamente gegen diese Stoffwechselstörungen entwickeln wollen, müssen wir damit das Zentralnervensystem ansteuern – und zwar indirekt, über das Blut als Transportmittel.“
WENN WIR EFFEKTIVE MEDIKAMENTE GEGEN DIESE STOFFWECHSELSTÖRUNGEN ENTWICKELN WOLLEN, MÜSSEN WIR DAMIT DAS ZENTRALNERVENSYSTEM ANSTEUERN – UND ZWAR INDIREKT, ÜBER DAS BLUT ALS TRANSPORTMITTEL.
Die gesuchten Substanzen sollen die Funktionen der natürlichen Signalstoffe möglichst ähnlich nachahmen, aber länger und stärker wirken. „Dazu brauchten wir eine Kombination von mehreren Signalen, denn eines alleine reicht nicht, um ein so komplexes System wie den Fett- und Energiestoffwechsel zu beeinflussen“, betont Matthias Tschöp. Zu den aussichtsreichsten Kandidaten zählten Darmhormone, die Botschaften zwischen dem Verdauungssystem und dem Gehirn übermitteln und so maßgeblich das Hungergefühl sowie den Auf- oder Abbau von Körperfett bestimmen. Die Wahl fiel auf Glukagon, GLP-1 (Glucagon-like Peptide 1) und GIP (Glukoseabhängiges insulinotropes Peptid). „Das sind drei ähnliche Hormone, die sich gut für eine Verschmelzung eignen. Das Glukagon ist zwar dafür bekannt, dass es den Blutzucker kurzfristig nach oben treibt, was wir ja eben nicht wollen. Aber es hilft langfristig, Kalorien zu verbrennen und kann – vor allem in Kombination mit GLP-1 oder GIP – viele weitere Aktivitäten anstoßen, die den Fettstoffwechsel positiv beeinflussen“, erklärt der Wissenschaftler.

Das Konzept der Polyagonisten könnte auch die Therapie anderer Krankheiten revolutionieren. Zusammen mit seinem Nachfolger als Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas bei Helmholtz Munich, dem DZD-Wissenschaftler Timo Müller, will Matthias Tschöp damit weitere Botenstoffe ins Gehirn schleusen. Zum Beispiel Schilddrüsenhormone, die, so PD Dr. Timo Müller, neben Adipositas auch einer nicht-alkoholischen Fettlebererkrankung helfen könnten. Oder Glukokortikoide, die für ihre entzündungshemmende Wirkung bekannt sind. Oder Östrogen, welches eine Vielzahl positiver Effekte auf den Energiestoffwechsel hat. Allerdings können alle diese Signalstoffe einzeln auch zu unerwünschten Nebenwirkungen führen, etwa am Herz oder der Gebärmutter. „Deshalb wollen wir sie mit GLP-1, GIP oder Glukagon koppeln“, erklärt Matthias Tschöp. „Denn solche Konjugate gelangen nur in Nervenzellen mit den entsprechenden Rezeptoren – und nicht etwa in andere Organe. Entscheidend ist dabei, dass die Kopplung hält und die Konjugate im Blut nicht in ihre Bestandteile zerfallen, weil diese sonst auch dorthin kämen, wo wir sie nicht haben wollen. Doch auch das haben wir bei einigen Konjugaten schon geschafft und hoffen, dass wir diese zeitnah klinisch testen können.“
DAS KONZEPT DER POLYAGONISTEN KÖNNTE AUCH DIE THERAPIE ANDERER KRANKHEITEN REVOLUTIONIEREN.